Taxifahren gegen die Krise
Wegen der Wirtschaftskrise nimmt die Zahl der illegalen Taxis in Moskau stetig zu
(n-ost) – Nie war es leichter in Moskau einen Auffahrunfall zu provozieren. Es genügt, an einer der zwölfspurigen Magistralen im Stadtzentrum dezent den Daumen zu recken – sofort scheren zwei, drei vier, fünf Fahrzeuge aus dem fließenden Verkehr aus und halten mit quietschenden Reifen an. Wohin? Wie viel? Zu teuer! Nächster. Binnen Sekunden wird man sich mit einem der „Schwarztaxi“-Fahrer einig, die Fahrt kann beginnen. Nun ist es beileibe nicht so, dass die illegalen, wiewohl staatlich geduldeten Privattaxen eine neue Erscheinung im Stadtbild wären. Anstatt zu Wucherpreisen offiziell zu fahren, verhandeln Moskauer den Fahrpreis seit eh und je mit Fahrern klappriger Ladas, meist Einwanderern aus Zentralasien. Doch neuerdings hält auch mal ein nagelneuer Golf an. Am Steuer sitzen Leute wie Wladimir Petrow, bis vor kurzem Ingenieur beim russischen Stahlunternehmen Severstal. Wegen der „Krisis“ fahre er nun nachts Taxi, erklärt der Mitt-Vierziger so knapp wie gelassen. Vor drei Wochen habe man ihn in „unbezahlten Urlaub“ geschickt. Jetzt fährt er Taxi, um den Kredit für seinen Ford Focus abzahlen zu können. Die „Krisis“, also die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, ist im russischen Alltag allgegenwärtig. Und zwar weniger, weil sie Ministerpräsident Wladimir Putin seit Jahresbeginn auch im Fernsehen anspricht. Sondern, weil ihre Folgen in der breiten Bevölkerung zu spüren sind. Vorige Woche gab die Staatsbahn RZD bekannt, in diesem Jahr knapp 54.000 Mitarbeiter zu entlassen. Die Staatsbanken VTB und Sberbank haben die ersten solcher Kahlschläge bereits hinter sich, weitere werden folgen. Derweil ist die Arbeitslosenquote auf mittlerweile 9,5 Prozent gesprungen. Seit Oktober hat sich die geschätzte Arbeitslosigkeit auf 7,1 Millionen mehr als verdoppelt. Die Wirtschaft wird nach einer aktuellen Prognose der Weltbank dieses Jahr um 4,5 Prozent schrumpfen – eine Umstellung für die Russen, die sich in den vergangenen Jahren an ein jährliches Plus von sieben bis acht Prozent gewöhnt haben. Der Abschwung trifft Russland heftiger als andere Staaten, da das Land außer Öl, Gas und anderen Rohstoffen auf der Exportseite nicht viel im Angebot hat. Doch die Preise liegen am Boden – und werden dort auch bleiben, solange die Weltwirtschaftskrise weiter wütet. Das Ausmaß der Auswirkungen, der Arbeitslosigkeit, der Armut, hätte man abmildern können, wenn rechtzeitig Geld in den Aufbau moderner Industrien und die Diversifizierung der Wirtschaft investiert worden wäre. Das war aber nicht der Fall. Und nun ist Russland vom Wohl und Wehe der Weltwirtschaft völlig abhängig. Immerhin: Die Regierung war sparsam – und legte sich bis Ausbruch der Finanzkrise ein Währungspolster von knapp 600 Milliarden Dollar an, das nun zur Stützung des Rubelkurses dienlich war. Die Reserven sind zwar um knapp die Hälfte geschrumpft, doch die Landeswährung wertete langsam statt plötzlich um ein knappes Drittel zum Dollar ab – ganz wichtig in einem Land, deren Menschen angesichts der traumatischen Erfahrung des Währungsverfalls zu Panikattacken mit Massenplünderung der Sparkonten neigen. Um die Folgen der Krise wenigstens ansatzweise einzudämmen, musste Premier Putin dennoch eine Neuverschuldung von 67 Milliarden Euro in den Haushalt schreiben – darin enthalten allerlei Steuersenkungen und vor allem Staatshilfen für wichtige Unternehmen. Die Fahrzeugbauer Lada und Kamaz oder Kampfjethersteller MiG – selbst in Boomzeiten kaum wettbewerbsfähig –, mussten teure Finanzspritzen bekommen. Ebenso wie die Staatsbanken Sberbank, VTB und VEB und die Staatskorporation „Russian Technologies“, die andere Unternehmen aufkaufen oder mit Notkrediten aufrichten sollen. Selbst mächtige Konzerne wie Gazprom oder Rusal, der Stahlriese des (Ex)-Oligarchen Oleg Deripaska, bekamen Staatsmittel in Milliardenhöhe, weil sie im Ausland heillos verschuldet sind. Verglichen mit solchen fiskalischen Feuerwehreinsätzen sind Putins sozialpolitische Krisenmaßnahmen Kleinigkeiten: Die Regierung hat das Arbeitslosengeld dieses Jahr zwar drastisch gesteigert, doch der Höchstsatz liegt immer noch kaum höher als 100 Euro. Davon kann in Moskau niemand leben. Leichte Steuersenkungen betreffen eher Unternehmen als Verbraucher. Kredithilfen kommen nicht bei Häuslebauern an, sondern versumpfen im Dickicht der Großbank-Bürokratie. Und das zerstückelte Konjunkturprogramm, das Investitionen im Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesen beinhaltet, wird dieses Jahr kaum mehr wirken, da Ausschreibungen in der russischen Verwaltung zu lange dauern. Trotzdem hält die Bevölkerung Russlands mächtigem Mann Wladimir Putin die Treue: Rund 54 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Premierminister, der die Bevölkerung mit markigen Worten zu Durchhalteparolen aufruft. Es gärt zwar in der russischen Gesellschaft – vor allem in Regionen, die am Schicksal eines Industriebetriebs wie Lada in Togliatti hängen –, doch mangels Alternativen sieht sich die breite Masse Russlands bisher nicht genötigt, die Krisenangst durch Protest auf die Straße zu tragen. Vermutlich ist das ein Stück weit Sowjetmentalität: Die Russen hoffen nicht auf Morgen, verlassen sich nicht auf die Mächtigen – sondern leben hier und jetzt, sie nehmen ihr Schicksal erst Recht in Krisenzeiten selbst in die Hand. Indem sie ihre Lebensmittel günstig im Schrebergarten ernten. Und abends Schwarztaxi fahren.Florian Willershausen
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