Russland

Harter Wahlkampf in der Olympiastadt Sotschi

Die Bürgermeisterwahlen in Sotschi gelten als Schaulaufen für Demokratie in Russland – doch die Menschen interessieren sich vor allem für die Probleme der Olympiastadt 2014

(n-ost) – Er hat den Müll vor dem Haus weggeräumt und Palmen gepflanzt. Das ist es unter anderem, was für die 80-Jährige Inna Zhukova bei den Bürgermeisterwahlen am Wochenende zählt. Deshalb wird sie Anatoli Pachomow, den amtierenden Bürgermeister und Kandidaten der Kreml-Partei „Einiges Russland“, wählen. Derzeit lässt Anatoli Pachomow in Sotschi Arbeiterkolonnen frische Farbe auf rostige Geländer und bröckelnde Fassaden pinseln.

Von den 26 illustren Bewerbern des Vorwahlkampfes hatte die Wahlkommission Anfang April neun Kandidaten zugelassen, geblieben sind sechs. Doch fünf der Kandidaten sind Umfragen zufolge chancenlos. Beobachter prophezeien, dass Anatoli Pachomow 60 Prozent der Stimmen erhalten wird. Die Schwierigkeiten bei der Vorbereitung der Olympischen Winterspiele 2014, für die es in der Bevölkerung noch eine Zustimmung von rund 50 Prozent gibt, scheinen indes den Amtssessel zum Schleudersitz zu machen. Innerhalb des vergangenen Jahres wurde der Posten des Bürgermeisters dreimal neu vergeben.


Vor der Wahl lässt der amtierende Bürgermeister Anatoli Pachomow noch schnell ein paar Schönheitsreparaturen durchführen. Foto: Steffi Wurster

Den Olympia-Machern kommt bei der Umsetzung ihrer ambitionierten Pläne die Realität in die Quere: Finanzkrise, Zeitdruck, Desorganisation, kein Generalplan und Widerstand aus der Bevölkerung. Putin hat im Februar den olympischen Etat um 15 Prozent gekürzt. Der Sturzflug der Landeswährung wirkt sich negativ auf den Import von Baumaterialien aus. Die Bauarbeiten, insbesondere private Investitionen, verlaufen schleppend. Hinter den flott aufgestellten Bauzäunen schlummert weiterhin das privatisierte Land. Luxuriöse Immobilienplakate sind verschwunden.

Inna Zhukova ist Olympia in Sotschi indes egal. Die Rentnerin traut Pachomow zu, die gravierenden Probleme der Stadt in den Griff zu bekommen. Die monatliche Rente Zhukovas, die früher im Sanatorium gearbeitet hat, beträgt rund 100 Euro – zu wenig, um sich ausreichend medizinisch zu versorgen. Vor ihrem Plattenbau staut sich täglich der Verkehr. Jeden Monat wäscht sie die Vorhänge, der Staub dringt durch alle Ritzen. Ihre Wohnung bleibt oft tagelang ohne Strom. Aus ihrem Fenster blickt Inna Zhukova direkt auf einen Hang, der in den vergangenen Jahren mit Häusern zugebaut wurde. Sie stehen alle leer. Der Baugrund ist feucht und erdbebengefährdet, man hätte eigentlich nicht darauf bauen dürfen, aber das wurde ignoriert.

Die Stadt vor weiterem städtebaulichen Wildwuchs zu schützen, verspricht der Oppositionspolitiker Boris Nemzow, ein weiterer der sechs Bürgermeister-Kandidaten. Er will die „Banditen“ mit ihrer „korrupten Investitionskriminalität“ stoppen. „Sie zerstören die Stadt. Ich werde sie erhalten. Sie sind der Stau. Ich baue die Straßen. Sie sägen die Bäume ab. Ich werde sie pflanzen“, ist auf seinem Wahl-Flyer zu lesen.

Die Tatsache, dass Boris Nemzow in Sotschi geboren wurde und dort die erste Klasse besucht hat, scheint für viele Wähler ein schlagkräftiges Argument zu sein. Denn die Stadt, die Boris Nemzow als 7-Jähriger kannte, ist die Stadt, nach der sich die Bewohner sehnen: das unverbaute Sotschi mit dem noch nicht abgerissenen Kinotheater, die Stadt ohne Hochhäuser und ohne die ewigen Staus. Seine Idee dezentralisierter Winterspiele in Sotschi hat Nemzow, einst Vizepremier unter Jelzin, in einem Buch niedergeschrieben, das er im Wahlkampf präsentiert.

Der Bau von Eispalästen im subtropischen Kurort ist für Nemzow „ein Wahnsinn“. Das künstliche Eis verschlinge zwei Drittel des städtischen Stroms. Die schweren Hallen auf dem sumpfigen Grund der Imeretinskaja-Bucht hält er für einen „konstruktiven Irrsinn“. Er will die Wettbewerbe auf Eis in kältere Regionen und bestehende Wettkampfstätten auslagern: Eishockey, Eiskunstlauf und Curling könnten in Moskau, St. Petersburg und Kasan, Eisschnelllauf in Kolomna und Tscheljabinsk, Biathlon und Skilanglauf in Chanty-Manssijsk ausgetragen werden.

Bei so viel Engagement für seine Heimatstadt fragen sich viele in Sotschi, ob Nemzow, der smarte und sicherlich prominenteste Kandidat der Wahl, nicht doch auf die „große“ Politik in Moskau schiele und den Medienrummel rund um Sotschi und die Spiele nur zu seiner  Profilierung nutze. Er habe doch vor Kurzem noch ganz andere Thesen vertreten. Inna Zhukova ist gar nicht begeistert von Nemzow.

Die Bewohner, denen aufgrund der olympischen Bauten die Umsiedlung bevorsteht, hat Boris Nemzow jedoch voll und ganz auf seiner Seite. „Er sagt ganz laut, was Sache ist“, lobt Natalja Kalinowskaja, die auf der Halbinsel an der Imeretinskaja-Bucht lebt. Direkt hinter Nataljas Garten beginnen die Kiesberge. Die sanfte Ebene ist der Platz für den Winterspielwahnsinn in den Subtropen: Curling-Paläste, das Olympische Dorf, 3- bis 4-Sterne-Hotels und zwei Frachthäfen. Die Häuschen der jetzigen Bewohner müssen weichen. Dafür bekommen sie viel zu geringe Ausgleichszahlungen – oder gar nichts, wenn ihre Häuser nicht ordnungsgemäß registriert waren. Ein Bürgermeister, der Boris Nemzow heißt und abgespeckte Winterspiele durchführt, ist Nataljas letzte Hoffnung.


Neubauten kennzeichnen das Bild der Stadt. Viele stehen jedoch leer, weil sie auf schlechtem Grund gebaut wurden. Foto: Steffi Wurster

Mit weniger hochfliegenden Worten hat auch der kreml-kritische Unternehmer und Milliardär Alexander Lebedew über eine teilweise Dezentralisierung der Spiele nachgedacht. Er wollte die einfachen Leute zu Gestaltern sowohl ihrer Stadt wie auch der Olympischen Spiele machen. So schlug er vor, die Hälfte der Aktien der Staatsholding „Olimpstroi“ an die Bevölkerung zu geben. Allerdings wurde seine Kandidatur wegen eines Formfehlers am Montag vor Gericht annulliert.

Früh hatte Lebedew die örtlichen Behörden im Verdacht, seinen Wahlkampf zu behindern. Pachomows Administration wisse die Agitation anderer Kandidaten zu verhindern, sagt er, indem sie Druck auf die städtischen Werbeagenturen ausübe. Dass in der Stadt am 26. April die Wahl zu einem neuen Bürgermeister stattfindet, kündigen nur zwei Plakate an. Auf den vielen Freiflächen der Plakatwände gibt es keine Wahlwerbung. Nemzow und Lebedew werfen dem amtierenden Bürgermeister Pachomow vor, sowohl die lokalen Fernsehsender wie seine administrative Position zu seinen Gunsten für die Wahlagitation zu nutzen.


Der Bürgermeister - Kandidat Boris Nemzow will die Winterspiele dezentralisieren. Foto: Steffi Wurster

Im Blog „Lebendige Zeitschrift“ beklagt Nemzow auch, dass Staatsangestellte unter Androhung der Entlassung gezwungen werden, vorfristig abzustimmen. Auf die Frage von Nemzows Mitarbeitern, wieso sie, die Angestellten, denn nicht am 26. April zur Wahl kommen wollten, hätten alle erschrocken geantwortet, dass sie am 26. April auf den Friedhof zu ihren Verwandten ins 200 Kilometer entfernte Krasnodar fahren werden.

Diese Art von Wahlkampf meint der Kreml sicherlich nicht, wenn er die Bürgermeisterwahlen in Sotschi lobt. Präsident Dmitri Medwedew hatte in der kreml-kritischen Nowaja Gazeta von einem „echten politischen Kampf“ gesprochen, der förderlich für die „Demokratie im Lande“ sei. Für Boris Nemzow ist das eine „Verspottung“ der Situation. Er sah sich bereits einer Reihe von Provokationen ausgesetzt – einem Säure-Attentat, der Beschlagnahmung seiner Wahlkampfbroschüren und einem mysteriösen Geldtransfer auf sein Konto.

Nemzows eigene Aktionen haben indes einen ähnlich absurden Charakter angenommen. Am Dienstag steckte er Volontäre in T-Shirts, mit der Aufschrift: „Korea-2014“. Pyeongchang wird immer wieder neben Salzburg als alternativer Austragungsort für die Spiele 2014 genannt. Begeisterte Passanten fragten: „Wo kann ich so ein T-Shirt kaufen?“ Am Tag darauf wurde Nemzow unterstellt, er würde versuchen, die Spiele an die Koreaner zu verkaufen. Das Internetportal life.ru veröffentlichte eine „sensationelle Videoaufzeichnung“ angeblicher Geheimverhandlungen Nemzows mit koreanischen Geschäftsleuten in Sotschi.

Angesichts solcher Aktionen interessiert viele Menschen in Sotschi die Bürgermeisterwahl erst gar nicht. Für die 29-jährige Jana Galikova hatte sich die Wahl spätestens nach der versuchten Kandidatur der Ex-Primaballerina Anastasija Wolotschkowa als leere Witznummer erledigt. Fast jeder Rentner oder Arbeitslose habe plötzlich Bürgermeister werden wollen. Auch der Vorsitzende der Armwrestling Federation in Sotschi, eine ehemalige Pornodarstellerin und der berüchtigte Ex-Geheimdienstmajor und mutmaßliche Mörder des Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko, Andrej Lugowoi, gehörten zwischenzeitlich zu den Anwärtern. „Die Wahl ist egal“, sagt Jana Galikova. „Es ist sicher schon alles entschieden.“ Der ganze Wahlzirkus werde doch nur veranstaltet, um von der Desorganisation bei den Vorbereitungen der Spiele abzulenken.

Steffi Wurster
ENDE

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