Russland

„Das Internet spielt die Rolle des Samisdat“

Die nächste Großdemonstration gegen die Wahlfälschungen in Russland ist für kommenden Samstag (24. Dezember) angesetzt. Über soziale Netzwerke wie Facebook und Vkontakte haben sich schon Zehntausende dafür angemeldet. Im Interview mit n-ost spricht der russische Medienwissenschaftler Iwan Sassurski über die Rolle des Internets innerhalb der neuen Protestbewegung in Russland und über Versuche des Geheimdiensts, das Medium zu kontrollieren.

n-ost: Manche vergleichen die Ereignisse in Russland schon mit der „Twitter-Revolution‟ in Ägypten. Was halten Sie davon?

Iwan Sassurski: Es gibt in Russland keine Revolution, nicht einmal einen Aufstand. „Unruhen“ ist wohl das passende Wort.

In welcher Weise versuchen die russischen Behörden, im Internet Einfluss zu gewinnen?

Iwan Sassurski: Sie suchen nach Möglichkeiten, das Internet zu kontrollieren. Zum Beispiel hat der FSB Pawel Durow, den Besitzer von Vkontakte [dem russischen Pendant zu Facebook; Anm. d. Red.], in einem Brief darum gebeten, oppositionelle Gruppen zu schließen. Durow hat sich geweigert, weil dies seiner Konkurrenzfähigkeit gegenüber Facebook geschadet hätte.

In den letzten Wochen kommt es vermehrt zu Ddos- und Bot-Attacken auf russische Internetseiten, Twitter usw. Wer steht dahinter?

Iwan Sassurski: Die Quelle des Unbehagens zu unterdrücken – das ist Repressionslogik, die Logik der Geheimdienstler. Die echten Auftraggeber und Ausführenden dieser Attacken sind schwer zu finden. Aber offensichtlich ist, dass vor allem oppositionelle Seiten betroffen sind, vor allem das Livejournal.

Hat das Regime die Rolle des Internets unterschätzt?

Iwan Sassurski: Es hat das Mobilisierungspotenzial der neuen Technologien unterschätzt – und das veränderte Verhalten der Bürger: Sie haben ihre Rolle als passive Fernsehzuschauer abgelegt. Das Internetpublikum ist aktiver geworden: Es will nicht mehr zuschauen, sondern teilnehmen.

Bisher schien es fast, als tolerierten die Behörden das Internet als eine Art „Blitzableiter‟ der Proteststimmung?

Iwan Sassurski: Zweifellos. Das Internet ist beides: Mobilisierungsressource der Opposition und Blitzableiter. Ob das Internet den Protest beschleunigt oder verlangsamt, kann ich nicht sagen. Aber dem Internet ist es zu verdanken, dass auf den Großdemonstrationen die Radikalen von den vielen friedlichen Demonstranten verdrängt wurden. Das ist positiv.

Warum sind die russischen Internetnutzer, deren Aktivitäten früher auf Bloggen und Kommentieren beschränkt waren, gerade jetzt auf die Straße gegangen?

Iwan Sassurski: Weil das Regime so tut, als gebe es sie nicht. Und die Logik des Internets zwingt den Menschen dazu, in solchen Momenten ihre Meinung zu sagen, das Vakuum zu füllen. Deshalb kommentieren sie massenhaft Artikel. Und deshalb sind sie jetzt auf die Straße gegangen: Damit haben sie hunderttausendfach die Wahlen kommentiert.
Putin beschuldigt die Opposition, Stimmen und Aktivisten zu „kaufen‟, wie es möglicherweise während der „Orangen Revolution‟ in Kiew der Fall war. Aber in Russland kaufen nur die Jugendorganisationen des Kreml Aktivisten, deshalb werden diese Anschuldigungen zum Bumerang.

Drohen dem russischen Internet Einschränkungen wie in China oder Belarus? Entsprechende Vorschläge gab es zuletzt aus dem Innenministerium.

Iwan Sassurski: Ich denke, darüber, wie man die Freiheit des Internet einschränken kann, zerbrechen sich viele den Kopf. Aber dazu müssten sie Facebook, Twitter und das Livejournal sperren. Gleichzeitig würde das keine große Atempause geben, höchstens bis zu den Präsidentschaftswahlen. Wenn die Behörden das tun, wird Russland tatsächlich in einer ähnlichen Situation sein wie Belarus oder China.

Warum organisieren sich die Protestgruppen vor allem auf Facebook, obwohl das Netzwerk bedeutend weniger Nutzer hat als Vkontakte?

Iwan Sassurski: Auf Facebook ist eher kosmopolitisches Publikum registriert, Menschen, die Fremdsprachen sprechen, die eher liberal sind. Das Publikum von Vkontakte war bisher unbestimmter oder apolitisch. Allerdings politisiert sich die Jugend auf Vkontakte momentan rasant, schuld daran ist die Heuchelei des Regimes.

Welchen Einfluss haben heute Internetmedien in Russland?

Iwan Sassurski: Der Einfluss wächst immer mehr, vor allem wegen des „viralen‟ Charakters der Verbreitung von Informationen in den Netzwerken. Außerdem ist die offizielle Position des Regimes für die ältere Generation eine Art Signal der „Rückkehr in die Sowjetunion‟ - das diskreditiert die offiziellen Medien. Alle wissen, dass diese Medien beeinflusst werden. Das Internet spielt in diesem System die Rolle des „Samisdat‟ und gewinnt immer mehr an Einfluss.

ZUR PERSON
Iwan Sassurski ist Direktor des Instituts für neue Medien und Kommunikationstheorie an der Journalistikfakultät der Lomonossow-Universität Moskau


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