Raus aus den Blogs, raus auf die Straße
Zur nächsten Moskauer Großdemonstration am kommenden Samstag (24. Dezember) gegen die Wahlfälschungen in Russland haben sich auf den sozialen Netzwerken Facebook und VKontakte rund 40.000 Leute angemeldet. Die neue Protestbewegung formierte sich übers Internet – und tritt nun aus der Virtualität auf die Straße.
Moskau (n-ost) – Nicht zum Sturm auf das Winterpalais, wie Lenin im Oktober 1917, blies der erste Redner der Großdemonstration vor einer Woche, auch nicht zum Sturm auf den Kreml. Nein, der Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow rief zum Sturm auf die Foren. „Wie ihr schon gemerkt habt, funktioniert das Internet nicht mehr. Weil das Regime Angst davor hat, dass die Wahrheit über diese Demo ins Netz gelangt‟, sprach er zu den zehntausenden Demonstranten im Zentrum Moskaus. „Deshalb nehmt alles auf, was hier passiert, und stellt es heute abend ins Internet. Wir stellen die Wahrheit auf jedes Forum von ‚Einiges Russland‘, jedes Forum der ‚Naschi‘ und jedes Forum der regionalen Verwaltungen‟, polterte er, und die Menschen schalteten ihre Handykameras ein.
Das Internet funktionierte ein paar Minuten später wieder, und in Echtzeit twitterten die Demonstranten, stellten Videos und Bilder ins Netz, und böse Zungen behaupteten später, dass die Menschen sich mehr für ihre iPhones als für die Reden von der Bühne interessiert hätten. Ist Russland auf dem Weg, die in Ägypten uraufgeführte Twitter-Revolution zu wiederholen?
In Russland hat sich eine weit entwickelte Internet-Community gebildet, jüngst hat das Land sogar Deutschland bei den Benutzerzahlen überholt. Das Umfrageinstitut FOM zählte Anfang 2011 50 Millionen Russen über 18 Jahren, die mindestens einmal wöchentlich ins Internet gehen, etwa 42 Prozent der Bevölkerung, nicht eingerechnet die unter-18-Jährigen. Im Vergleich zu 2007, als die letzten Parlamentswahlen stattfanden, hat sich die Anzahl der Nutzer verdoppelt.
Und während Wladimir Putin im letzten Jahrzehnt nach und nach die großen Medien auf Staatslinie brachte, entwickelte sich das Internet zur Gegenöffentlichkeit mit einer Bloggerszene, die eine weitaus größere Rolle spielt als in Deutschland: Die Blog-Plattform „Livejournal‟ hat in Russland fünf Millionen Nutzer, populäre Blogger werden täglich von über 70.000 Menschen gelesen. Gleichzeitig fungiert das Internet aber auch als Blitzableiters: Die Aktivität der russischen Community beschränkte sich aufs Bloggen und Kommentieren fremder Blogs – und hatte kaum Auswirkungen auf die Wirklichkeit.
Mit den Parlamentswahlen vom 4. Dezember, die nach Meinung vieler gefälscht wurden, hat sich das geändert: Innerhalb von Stunden machten im Internet Videos und andere Dokumentationen von Wahlfälschungen die Runde, und am folgenden Wochenende gingen die Menschen russlandweit auf die Straße, in Moskau um die 40.000. Zu der größten Demonstration seit Anfang der 90er Jahre hatten sich die Teilnehmer auf Facebook, VKontakte und Twitter verabredet. Die Symbolfigur der Proteste ist der 35-jährige Blogger und Antikorruptionskämpfer Alexej Nawalny, der die Großdemo allerdings nur aus der Ferne beobachten konnte: Zwei Tage nach den Wahlen wurde er festgenommen und zu 15 Tagen Arrest verurteilt.
Auch anderweitig bemühen sich staatliche Strukturen, den Protest aufzuhalten: Die Internet-Seiten unabhängiger Medien und besonders das Livejournal wurden mit DDos-Attacken gestört, Twitter-Accounts, auf denen die Demonstrationen diskutiert wurden, wurden mit automatisch generierten Botschaften bombardiert. Der Blog von Ilja Klischin, der auf Facebook die Großdemonstrationen in Moskau organisierte, war zwei Tage lang unerreichbar. Laut dem Geheimdienstexperten Andrej Soldatow führt diese Attacken nicht der FSB aus, sondern sogenannte „patriotische Hacker‟, die in Verbindung mit dem Kreml stehen.
Allerdings war es jener Inlandsgeheimdienst FSB, der in der Woche nach den Wahlen Pawel Durow, Besitzer von „VKontakte‟, dazu aufforderte, oppositionelle Gruppen zu sperren. Was dieser verweigerte. Dafür knöpft sich der Geheimdienst die Moderatoren der Foren vor: In mehreren Städten verschwanden Protestgruppen im Netzwerk VKontakte nur Stunden nach der Gründung wieder. Wie das geht, erzählt eine 18-Jährige, die in der Stadt Kaluga, südwestlich von Moskau, eine Protestgruppe angemeldet hatte: „Zwei Männer in Zivil holten mich vor der Universität ab und zwangen mich, eine Erklärung zu unterschreiben, dass ich die Seite schließen würde‟.
Im benachbarten Belarus, das seit fast zwei Jahrzehnten von Alexander Lukaschenko regiert wird, ist die Internet-Zensur schon Wirklichkeit: Mit dem „Ukas 60‟ vom Februar 2010 schuf der Diktator die rechtliche Grundlage dafür, nicht nur Seiten mit pornografischen Inhalten, sondern auch oppositionelle Ressourcen zu blockieren. In Schulen und anderen staatlichen Einrichtungen kann etwa die Seite „charter97.com‟ nicht mehr aufgerufen werden. „Wir haben gelernt, mit diesem Übel zu kämpfen‟, erklärte Lukaschenko jüngst seinen Amtskollegen aus Russland und Kasachstan. „Wir schließen nicht das Internet, Blogs oder soziale Netzwerke. Aber wenn es gesetzeswidrig ist, ergreifen wir entsprechende Maßnahmen.‟
Offiziell existiert im russischen Internet keine Zensur, aber wenige Tage nach den Wahlen ließ ein Interview in der Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta‟ in der russischen Online-Community die Alarmglocken schrillen: Da schlug ein hoher Beamter des Innenministeriums vor, die Anonymität im Internet zu verbieten. „Registrier dich unter deinem echten Namen, gib deine echte Adresse an – und unterhalt dich‟, erklärte da Generalmajor Alexej Moschkow, dessen Abteilung gegen Internetkriminalität kämpft. „Wenn du ein ehrlicher, gesetzestreuer Mensch bist, warum solltest Du Dich verstecken?‟ In den sozialen Netzwerken sieht Moschkow eine potentielle Bedrohung für die „Grundpfeiler der Gesellschaft‟: Hier würden sich extremistische Gruppen organisieren und ihre Aktionen koordinieren.
Derweil organisiert sich im Internet die nächste Großdemo für kommenden Samstag (24. Dezember; die orthodoxen Christen feiern Weihnachten erst am 6. Januar): Anfang der Woche verfolgten russlandweit Tausende die Sitzung des Organisationskomitees, online und in Echtzeit auf „geniroom‟. Auf Facebook und VKontakte haben sich schon knapp 40.000 Menschen für die Demonstration angemeldet
Die Versuche des Kremls, auf dem Terrain der Gegner Boden zu machen, schlagen derweil fehl: Vor einer Woche registrierten Mitglieder der Partei die Seite „Einiges Russland für ehrliche Wahlen‟ auf Facebook, sammelten innerhalb der ersten 48 Stunden jedoch nur 272 Mitglieder.
Noch härter traf es allerdings Dmitri Medwedew. Der Präsident hatte sich – im Gegensatz zu Putin – in den vergangenen Jahren immer wieder als Freund der russischen Blogosphäre präsentiert: Neben Twitter, Facebook und VKontakte führte er einen eigenen Videoblog auf der Seite „blog.kremlin.ru‟. Seit aber dieser Präsident im September bekanntgab, Wladimir Putin den Kreml wieder zu überlassen, fühlt sich jene Community betrogen und verhöhnt den Präsidenten: Als er am Dienstag als einzige offizielle Reaktion mit wenigen lakonischen Sätzen die Großdemonstration vom Samstag auf seiner Facebook-Seite kommentierte, erhielt er innerhalb weniger Stunden über 10.000 wütende Kommentare.
INFOKASTEN
Die wichtigsten Online-Netzwerke in Russland:
Twitter - im Juli 2011 gab es über eine Million russischsprachiger Twitter-Accounts.
LiveJournal.com (russ. „живой журнал“, „schiwoj schurnal“) – eine Blogger-Plattform mit über fünf Millionen Nutzern. Populäre Blogger wie Rustem Adagamow (drugoi) haben hier täglich bis zu 75.000 Leser.
VKontakte – soziales Netzwerk, das in den GUS-Ländern weit vor Facebook liegt: Allein in Russland hat es 75 Millionen Nutzer.
Facebook – knapp fünf Millionen Nutzer in Russland.