Lokomotive lebt!
96 Tage nach dem Flugzeugabsturz, bei dem das gesamte Team der Eishockeymannschaft von „Lokomotive Jaroslawl“ ums Leben kam, feiert der Club seine Wiederauferstehung. Das erste Spiel am Montag wurde live im Staatsfernsehen übertragen. Dass die Trauer der Bürger noch nicht vorbei ist, bekam auch die politische Führung zu spüren: Bei den Parlamentswahlen fuhr die Putin-Partei „Einiges Russland“ hier mit 29 Prozent das russlandweit schlechteste Ergebnis ein.
Moskau (n-ost) – 9.000 Zuschauer sind an diesem Abend in die „Arena 2000“ am Stadtrand von Jaroslawl gekommen, jene Spielstätte von „Lokomotive Jaroslawl“, die sich nach dem Flugzeugunglück vom 7. September 2011 in eine Arena der Trauer verwandelt hatte. Und bevor das Spiel zwischen „Lokomotive“ gegen „Neftjanik Almetjewsk“ beginnt, gehen in der Halle die Lichter aus. Minutenlang zeigen die Anzeigetafeln unter dem Dach der Arena die Gesichter jener Spieler, die beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind, dazwischen Bilder brennender Kerzen und dann „Lokomotive betritt wieder das Eis.“ Die Zuschauer erweisen den Verstorbenen mit minutenlangen Ovationen die Ehre, und begrüßen jene, die da unten auf dem Eis stehen, in roten Trikots, kaum einer von ihnen älter als 20 Jahre.
Nach oben blickt auch der Spieler mit der Nummer 61, und niemand weiß, was dem 20-jährigen Maxim Sjusjakin in diesen Minuten durch den Kopf geht: Er war erst am Vorabend der Tragödie vom Trainer in die Jugendmannschaft zurückbeordert worden. „Ich habe meine zweite Familie verloren“, hat er nach dem Unglück gesagt. Sjusjakin ist jetzt Kapitän dieses blutjungen Teams, zusammengewürfelt aus der eigenen Jugendmannschaft und Jugendspielern anderer KHL-Teams. Immerhin drei Jugendnationalspieler hat die Mannschaft, die nun hart daran arbeiten muss, an die Geschichte des Clubs anzuknüpfen: Seit den 90er Jahren gehörte Jaroslawl zu den stärksten russischen Teams, dreimal holte es den Titel, in der letzten Saison Bronze in der KHL.
Als am vergangenen Freitag der Vorverkauf für das Spiel begann, waren die Tickets nach nur vier Stunden ausverkauft. Und das Team enttäuscht seine Fans nicht: Nach 14 Minuten ist es am Montagabend jener Maxim Sjusjakin, der mit seinem Pass das erste Tor in der neueren Geschichte von „Lokomotive Jaroslawl“ vorbereitet: 9.000 Menschen jubeln, und durch die Halle dröhnt das Tuten eines Zuges – Tradition in Jaroslawl. 5:1 besiegte das blutjunge Team am Ende den Tabellenführer „Neftjanik Almetjewsk“.
Doch wo der Club am Ende dieser Saison in der „VHL“, die als „Zweite Liga“ des russischen Eishockey gilt, stehen wird, spielt eigentlich keine Rolle: Denn die Führung der „Kontinentalen Hockey-Liga“ (KHL), in der Jaroslawl in den letzten Jahren spielte, versprach dem Team kurz nach der Katastrophe, dass es in der Saison 2012/2013 in jedem Fall wieder in der höchsten Spielklasse spielen dürfe.
In die „Arena 2000“ ist so 96 Tage nach der Tragödie wieder Leben eingekehrt. Am 10. September wurden in dem Stadion die Särge von 14 verunglückten Spieler und Vereinsmitarbeiter aufgebahrt, über 100.000 Menschen verabschiedeten sich von den Spielern.
Am Nachmittag des 7. September war das Team auf dem Weg zu seinem ersten Saisonspiel nach Minsk beim Abheben vom Flughafen in Jaroslawl ins Trudeln geraten und abgestürzt. Die Untersuchung der Katastrophe durch das „Zwischenstaatliche Luftfahrtkomitee“ (MAK) widerlegte jedoch erste Annahmen, dass technische Probleme des 17 Jahre alten Flugzeuges, einer Jak-42, zur Katastrophe geführt hätten. Grund sei vielmehr ein Pilotenfehler gewesen: Aus ungeklärten Gründen hatte entweder der Pilot selbst oder der Co-Pilot während des Starts mehrfach die Bremse betätigt. In russischen Medien wurde unter anderem ein möglicher Streit zwischen Pilot und Co-Pilot diskutiert.
Unter den 44 Opfern des Flugzeugabsturzes war damals auch der 25-jährige deutsche Nationalspieler Robert Dietrich, der erst kurz zuvor von den Adlern Mannheim nach Jaroslawl gewechselt war. Der Deutsche Eishockeybund (DEB) erklärte nach der Katastrophe, dass Dietrichs Rückennummer 20 nicht mehr vergeben werden solle.
Bei den 1,2 Millionen Einwohnern des Gebietes Jaroslawl sitzt der Schock allerdings noch immer tief. Ihre Wut und Trauer richtete sich am 4. Dezember gegen die politische Führung des Landes: Bei den Parlamentswahlen fuhr die Regierungspartei „Einiges Russland“ hier das landesweit schlechteste Ergebnis ein: 29 Prozent, 24 Prozent weniger als noch vor vier Jahren. „Der Tod der Eishockeymannschaft war ein sehr bedeutsames Ereignis, und dieses allgemeine Depressionsgefühl hat sich zweifellos auf die Wahlen ausgewirkt“, sagt der Politologe Jewgeni Golubjew.