SCHWARZES MEER DER GEGENSÄTZE
(n-ost) - "Man musste schon sehr fest an die Zukunft glauben, um das heutige Sotschi, das überhaupt nicht bereit ist für diese Olympischen Winterspiele, die Ausschreibung gewinnen zu lassen." Das schrieb der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew im Sommer 2007, noch bevor die Bagger nach Sotschi kamen. Ein gutes Jahr später muss der Glaube an die Zukunft noch genauso groß sein. Es fällt schwer, sich Olympische Spiele an diesem Ort, der geprägt ist von Gegensätzen und Großmut, vorzustellen.An diesem Platz soll 2014 das Zentralstadion stehen. Foto: Steffi WursterSotschi ist der einzige russische und zugleich der weltweit nördlichste Ort mit subtropischem Klima. Es gibt im ganzen Land keine Region, die sich mit diesen natürlichen Gegebenheiten vergleichen ließe. Die dicht bewaldeten Gebirgszüge des Westkaukasus laufen hier in sanften, saftig-grünen Hügeln zum Meer hin aus. Die Vegetation ist üppig. Es wachsen Palmen, Zedern, Zitrusbäume, exotische Nadelhölzer. Und dennoch: In den Bergen sollen Skifahrer um Olympisches Gold kämpfen.Wer rund um Sotschi viel mit dem Auto unterwegs ist, muss sich vor jeder Fahrt beim Personal erkundigen ein, wieviel Zeit zu einer bestimmten Tageszeit für die Fahrt einzuplanen ist. Auf der schmalen Trasse zwischen Adler und Sotschi beispielsweise schlängelt sich der Verkehr in Schrittgeschwindigkeit am Schwarzen Meer entlang. Natürlich soll die sich zuspitzende Verkehrssituation bis zu den Spielen entschärft werden. Rund 190 Milliarden Rubel (fünf Milliarden Euro) werden dafür investiert. Auch von Luft- und Wassertaxis und einer Leicht-Metro ist die Rede.Aus Rohbau-Skeletten wie diesen entstehen in Sotschi Luxuswohnungen und Hotels. Foto: Steffi WursterMichail ist mit seiner Familie bereits vor mehreren Monaten nach Maikopp, 250 Kilometer nördlich von Sotschi, aufs Land gezogen. Sotschi war ihm zu hektisch und zu laut. Zu viele Staus und Hochhäuser. Alles habe sich nur noch ums Geld gedreht. Vor zehn Jahren sei in dem ruhigen Kurort noch Rücksicht auf die Natur genommen worden. Heute dagegen sei für das Fällen von Bäumen keine Genehmigung mehr nötig. Er zählt sich zu den ersten Opfern von Olympia. Seine Freunde können ihn nicht verstehen, jetzt, wo doch alles in Richtung Sotschi zieht.Jeder, der etwas auf sich hält, will ein Luxusappartment in Sotschi haben. Seit Monaten herrscht ein Kampf um die besten Grundstückslagen an der Schwarzmeerküste, dem Filetstück des Landes. Nach Einschätzung der Immobilienmakler hat der Markt seinen Höhepunkt jedoch bereits überschritten. Die Toplagen sind weg. Seit April fallen die Immobilienpreise.Sotschi mit seinem disparaten architektonischen Ensemble aus ehemals luxuriösen Heilstätten und modernen Hotels, einer Mischung aus stalinistischem Expressionismus, nachempfundener Antike und Massentourismus, hat sich in eine Großbaustelle verwandelt. Betonskelette sprießen aus dem Boden. Innerhalb weniger Monate verändert sich das Stadtbild radikal. Hotels und ganze Viertel werden abgerissen, Menschen umgesiedelt. Parks werden privatisiert, das Grün der Gärten verschwindet hinter Bauzäunen.Nach ausufernden Stadterkundungen wirkt das russische Brotbier, Kwas, äußerst belebend. Es wird in kleinen Kübelwagen mit der kyrillischen Aufschrift KBAC an vielen Ecken angeboten. Das über 1000 Jahre alte Nationalgetränk wird aus Brot und wahlweise Honig, Obst und Beeren zubereitet und ist der perfekte Durstlöscher.In Krasnaja Poljana laufen die Bauarbeiten für olympische Objekte auf Hochtouren. In nagelneuen Gondeln des Energieriesen Gasprom können Besucher auf die Berge fahren, auch die Aibga-Seilbahn ist in Betrieb. Die Talstation in Esto Sadok ist eine ehemals estnische Siedlung. Dort, inmitten des ansonsten noch unwirtlichen Geländes, sprießt der Kommerz: kleine Cafes im rustikalen Stil eines mittelalterlichen Marktes, Holzstände mit den üblichen Souvenirs, ein Fischpool, in dem Touristen angeln.Am angrenzenden Hang stehen Hüttchen und Wohnwagen. Hinter klapprigen Zäunen arbeiten alte Frauen in ihren kleinen Gärten. Mitten drin: drei mit auffallenden Kameras ausgerüstete Besucher. Es sind Architekten aus Moskau, die auf einem gegenüberliegenden Hang ein Appartmenthaus planen. Sie nennen das Vorhaben "fantastisch". Die Zeit sei bereits viel zu knapp. Die 800 Rubel (ca. 25 Euro) für den Sessellift investieren sie, um von oben Werbefotos zu schießen.Wer dem spröden Charme der Baustellen entfliehen will, bekommt in Esto Sadok Exklusives geboten. Im französischen Luxusrestaurant Atmosfere gibt es für sechs Euro, den sechs-fachen Preis der Busfahrt Adler - Krasnaja Poljana, einen vorzüglichen Espresso. Der sympathische Chef aus Nizza erwartet für den Abend eine Ministerrunde. Er ist erstaunt über den neuen Umgang mit Geld. Solche Gäste lassen bei ihm schon mal 3000 Euro an einem Abend allein für Wein.Goldgräberstimmung in Esto Sadok. Wo jetzt noch kleine Häuschen und Bauzäune das Bild prägen, sollen Luxusappartments entstehen. Foto: Steffi WursterDer Restaurant-Chef tischt den Ministern Hummer aus Kanada auf, Lamm aus dem Ofen. Ein Menü reicht oft nicht. Die Gäste wollen mehr. Der Umsatz, den er an diesem Abend machen wird, entspricht dem eines ganzen Monats in Frankreich. Ihm ist klar, dass die Preise insgesamt steigen. Ob die Menschen, die in Krasnaja Poljana leben, sich auch in Zukunft das Leben in dem Austragungsort der olympischen Spiele leisten können, weiß er nicht. Auch fragt er sich, was mit den vielen Hotels, die jetzt in Krasnaja Poljana gebaut werden, nach den Winterspielen passieren soll.Die Imeretinski-Bucht wird es im heutigen Zustand nicht mehr lange geben. In den Bus Richtung Bucht steigen verknitterte, alte Frauen, Soldaten und kleine Jungs - ganz andere Leute, als in die Busse Richtung Sotschi City. Ein Markt oder Pferde, die friedlich auf weiten Feldern weiden, bieten idyllische Fotomotive. Doch den Fotoapparat zu zücken, kann unangenehme Folgen haben. Die russische Polizei scheint in der Bucht inzwischen Jagd auf Kameras zu machen. Zu nah ist die Grenze zu Abchasien, der von Georgien abtrünnigen Provinz. Olympia im Krisengebiet - das ist Motto der Spiele für viele Bewohner der Bucht.Für sie werden die Spiele wohl zu einer Tragödie. Sie müssen ihre Häuschen und Grundstücke räumen. Die ihnen angebotene Kompensationszahlung beläuft sich auf ein Zehntel des realen Grundstückswerts. Allerdings sind viele Grundstücke und die zugehörigen Gebäude formal nicht als Eigentum registriert und können leicht zu nicht genehmigten Bauten erklärt werden. In einem solchen Fall gibt es keine Entschädigung.Das Gelände der Halbinsel bietet beste Bedingungen für die Landwirtschaft. Das subtropische Klima erlaubt bis zu fünf Ernten. Natascha, die mit ihrer Familie seit 25 Jahren in der Sowchose Rossija lebt, zeigt auf die Bananen und Kiwis in ihrem Garten. 3000 Menschen leben derzeit in der Sowchose, die drei bis vier Sterne-Hotels und weiteren Luxusbauten weichen soll. Alles muss weg.Werbeplakate für die Zukunft der Region Sotschi, hier auf einem Hof in Adler. Foto: Steffi WursterDie gigantischen Bauvorhaben sind ohnehin umstritten. Das Sumpfland erfordert Grabungen in bis zu 50 Meter Tiefe, um stabile Fundamente für die Sportstätten garantieren zu können. Schwere Bauten trägt der Boden jedoch nicht. Selbst ein Großinvestor wie der russische Oligarch Oleg Deripaska ist von der Finanzierung riskanter Bauvorhaben zurückgetreten.Svetlana Beresteneva, Einwohnerin von Sotschi, erzählt von Stalins Versuch, einen Flughafen auf dem Gelände zu bauen: "Der Verantwortliche ging zu Stalin und sagte, sie können mich auf der Stelle erschießen, aber da kann man nicht bauen." Der Flughafen wurde schließlich woanders realisiert. Svetlana zieht die Schlussfolgerung: "Stalin hat verstanden, Breshnev hat verstanden - Putin hat nichts verstanden. Welche Technologie wollen sie denn nutzen? Das ist Natur! Wir haben hier ein Schwarzes Meer. Es ist schwarz, unvorhersehbar, unberechenbar."ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0