Russland

Dienstreise nach Akademgorodok

(n-ost) – Im Leben von Leonid Ljukjantschik muss es täglich laut knallen und krachen. Seit einem halben Jahrhundert experimentiert der ehemalige Laborleiter des Hydrodynamischen Instituts schon mit Sprengstoffen. Und er kann es bis heute nicht lassen. Das sieht man dem 72-jährigen Russen an, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Der Forscherdrang ist dem Physiker noch immer ins Gesicht geschrieben; seine Augen funkeln. In Rente gehen will Leonid Ljukjantschik noch lange nicht. Einen ruhigen Lebensabend auf seiner Datscha verbringen – das kann sich der aufgeweckte Mann nicht im Traum ausmalen. Im Gegenteil. Auf seine alten Tage wünscht er sich noch einmal ein Feuerwerk an Ideen. Ideen, um mit seiner Arbeit voranzukommen, wie er sagt. Doch es ist nicht nur der Forscherdrang, der ihn vom Rentner-Dasein abhält. „In Russland reicht die Rente nicht zum Leben“, erklärt er.


Leonid Ljukjantschik. Foto: Simone Schlindwein

Ljukjantschik gehört zu jener Generation russischer Forscher, die in den 50er Jahren in Sibirien das Eldorado der sowjetischen Wissenschaften aufgebaut haben. Dieser Enthusiasmus ist bis heute geblieben: „Ich bin nicht hierher gekommen, um Karriere zu machen, sondern um mein Leben dafür zu opfern“, sagt er voller Überzeugung.Seit 50 Jahren fährt Leonid Ljukjantschik jeden Morgen mit dem Minibus in das Forschungslabor des Hydrodynamischen Instituts. Der alte, graue Sowjetbau versteckt sich zwischen Birken und Kiefern an der Hauptstraße von Akademgorodok, dem Wissenschaftler-Städtchen im Herzen Sibiriens. Die besten Mathematiker, Physiker, Chemiker und Informatiker lebten zu Sowjetzeiten in dieser Hochburg der Wissenschaften. An diesem geheimen Ort, mitten in der sibirischen Taiga, bastelten Forscher einst an den sowjetischen Atombomben. Und Leonid Ljukjantschik ist einer der letzten Zeugen, die von den Anfängen erzählen können.


Ljukjantschik (2.v.r.) und seine Kollegen waren in Akademgorodok die Forscher der ersten Stunde. Foto: Privatarchiv Ljukjantschik

In Ljukjantschiks Labor im Institut von Akademgorodok installieren Bauarbeiter gerade einen Heizungskörper. Deswegen sitzt er vorübergehend im Konferenzsaal nebenan, im Büro des ehemaligen Institutschefs Michail Lawrentjew. Der berühmte Physiker und einstige Vorsitzende der sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften hatte im Jahr 1956 Generalsekretär Nikita Chruschtschow die Entscheidung aus dem Kreuz geleiert, die geheime Wissenschaftlerstadt in der abgeschiedenen Taiga zu bauen. Bis heute wird der inzwischen verstorbene Lawrentjew als Gründervater verehrt. „Er war unser Idol, denn er war ein Enthusiast“, sagt Ljukjantschik.Wenn der alte Mann mit dem grauen, schütteren Haar aus seinem Leben erzählt, dann spricht er nicht von seinen Eltern oder seiner Heimatstadt, sondern hauptsächlich von Lawrentjew und diesem Forschungszentrum mitten in der Taiga. In Ljukjantschiks Erinnerungen ist Lawerentjew einVisionär und der geistige Vater einer Forscher-Generation mit einer ganz neuen Wissenschaftskultur. „Seine Idee war es, eine Stadt zu gründen, die es bisher noch nicht gab“, erzählt Ljukjantschik. „Er war ein Mann, der uns gezeigt hat, dass man aus Nichts Alles machen kann und dass keine Aufgabe unlösbar ist.“ Ljukjantschik wurde als junger Student im Alter von 24 Jahren auf eine Dienstreise nach Sibirien geschickt. Der alte Mann schüttelt mit dem Kopf, als er feststellt, dass er 50 Jahre später immer noch auf Dienstreise ist. Über fünf Tage war die Dampflok damals aus dem 3000 Kilometer entfernten Moskau bis in die südsibirische Stadt Novosibirsk unterwegs. „Dort stieg ich in den Bus Nummer neun Richtung Berdsk“, erinnert sich Ljukjantschik an jenen heißen Tag im August. Er weiß noch, wie er den Busfahrer nach dem Eisenbahnmuseum gefragt hat und dieser ihn dort aussteigen ließ. „Dort war nur Taiga, sonst nichts“, sagt der alte Mann und schüttelt seinen Kopf. Dann sah er einen Kran über den streichholzdünnen Birken und steuerte darauf zu. „Irgendwann tauchte dann Lawrentjew mit einem Auto aus dem Wald auf und brachte mich zu einer Baustelle“, erzählt er und deutet auf den Fußboden. „Heute steht hier dieses Gebäude.“ Ljukjantschik lächelt bei der Erinnerung an die erste Zeit in der Taiga. „Wir nannten diesen Ort damals das Goldene Tal“, erzählt er und zeigt dabei aus dem Fenster auf den rund drei Kilometer entfernten Stausee des Ob-Flusses, dessen Becken sie damals in den tiefgefrorenen Taiga-Boden sprengten. „Als wir 1957 hier unsere ersten Test-Explosionen durchführten, mussten wir Wasser mit dem Auto ankarren.“  Eine Stromleitung habe es damals auch noch nicht gegeben, erklärt er, während er seinen Laptop aufklappt. Dann klickt sich der 72-Jährige durch eine Diashow digitalisierter Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus seinem Fotoalbum. „Da stehen die Zelte, in denen wir im ersten Sommer gehaust haben“, sagt er und klickt weiter. Auf dem nächsten Bild sind statt Zelten Holzbaracken zu sehen. „Und 1959 wohnten wir schon in richtigen Häusern“, sagt er stolz. Die Wissenschaftler in Moskau hätten erst im sechsten Jahr ihrer Berufslaufbahn eigene Wohngebäude zur Verfügung gestellt bekommen. Mit den Fotos werden seine Erinnerungen noch lebendiger: Knöcheltief stehen der junge Ljukjantschik und seine Studienkollegen in einem Wasserbecken. Sie befestigen eine Eisenplatte senkrecht im Boden. Mit hochgekrempelten Hosenbeinen steht Professor Lawrentjew daneben und überwacht die Versuchskonstruktion. Auf den nächsten Bildern tragen er und seine Kommilitonen Fellmützen und lange Mäntel: Auch bei minus 30 Grad gingen die Versuche unter freiem Himmel weiter. Die explodierenden Benzintanks wirbeln den Schnee wie einen Atompilz in den Himmel. Eine Aufnahme zeigt das Porträt von Lawrentjew, dem die ringförmige Schneewolke wie ein Heiligenschein über dem Kopf schwebt. „Das ist mein Lieblingsbild“, erklärt Ljukjantschik.


Ein Heiligenschein aus Schnee für den Gründer von Akademgorodok. Foto: Privatarchiv Ljukjantschik

Voller Stolz zählt der Forscher die Lenin-Preise auf, die er für seine Arbeit erhalten hat. Er und das Team des Hydrodynamischen Instituts bastelten an Bomben für Unterwassereinsätze, mit denen U-Boote die Eisdecke am Nordpol aufsprengten. Auch Minen-Schutzpanzerungen für Militärfahrzeuge und neue Sprengstoffe für Raketen hatten sie entwickelt – geheime Forschungsarbeiten im Dienste des Militärs. „Moskau hat uns alles geschickt, was wir brauchten“, betont er. Zu Sowjetzeiten war dies der pure Luxus. Doch 1992 änderte sich alles. Als die Sowjetunion zusammenbrach, versiegten die Geldquellen für den Verteidigungshaushalt. Wissenschaftler wie Ljukjantschik waren plötzlich arbeitslos, Materialien wurden nicht mehr angeliefert. „Zum Glück bekamen wir unser Gehalt noch ausgezahlt“, sagt er. Wenn sich Ljukjantschik an die „harten Zeiten“ zurück erinnert, wie er die 90er Jahre nennt, dann kann man ihn deutlich erkennen: den Optimisten in ihm. Er seufzt etwas über den Zustand seines Labors, klagt kurz über die Sorgen, die er sich machte, seine wissenschaftlichen Mitarbeiter entlassen zu müssen, und wischt dann all die weniger guten Erinnerungen mit einem Lächeln vom Tisch. „Ich hatte immer Hoffnung, dass es wieder bergauf gehen würde“, sagt er und schweigt ein paar Sekunden. Dann nickt er, als wolle er sich in seiner eigenen Hoffnung bestätigen: „Ich habe das Gefühl, dass seit einem Jahr die Gehälter wieder steigen.“ Und auch sein Labor hat neue Aufträge: Tiefensprengungen für die Erdölindustrie, Schutzpanzerungen aus gehärtetem Titan und die Entwicklung neuer Sprengstoffe, die auch nach jahrzehntelanger Lagerung nicht unkontrolliert in die Luft fliegen. Im vergangenen Jahr habe er auch wieder eine wissenschaftliche Auszeichnung erhalten, erzählt er stolz – ausgerechnet im 50. Jubiläumsjahr von Akademgorodok.Ljukjantschiks nächste Dienstreise führt ihn ins Kernforschungszentrum nach Sarow an die Wolga. Ins Ausland zu reisen, das sei ihm zu teuer, sagt er. Und eigentlich verlässt er Akademgorodok nicht gerne. Regelmäßig trifft er sich lieber hier mit seinen alten Studienkollegen aus den 50er Jahren. Die, die noch leben, arbeiten heute immer noch, so wie sein Freund, der Professor für Kernphysik, oder der Direktor des Instituts der Mechanik. „Wir wollen Lawrentjews Idee und die Traditionen fortführen“, sagt er  pathetisch. Deswegen soll seine Dienstreise, die vor 50 Jahren begann, auch nicht so bald enden.

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