Fernsehen aus der Schokoladenfabrik
Jahrelang hat der Kreml das Fernsehen kontrolliert und zur Propaganda genutzt. Jetzt gibt es plötzlich einen Fernsehsender, der alles anders macht: Liveschaltungen von den Demonstrationen, Diskussionen mit Oppositionellen, offene Kritik am System Putin. Dafür muss „TV Doschd“ mit Hacker-Attacken kämpfen – und mit der staatlichen Medienaufsichtsbehörde.
Moskau (n-ost) – Es ist einer dieser aufregenden Tage nach den Parlamentswahlen in Russland. Wer am Mittag den Sender „Doschd“ einschaltet, sieht einige junge Menschen in Jeans und T-Shirts um eine leuchtende Säule stehen. Es ist die Redaktionssitzung des Senders, live übertragen, wie fast alles auf dem Kanal. An die Säule hat jemand mit großen schwarzen Buchstaben „FSB“ geschrieben, man diskutiert über die Versuche des Geheimdienstes, oppositionelle Gruppen im sozialen Netzwerk „vkontakte“ zu löschen. Weiter unten steht „Tschurow“, jemand erzählt einen Witz über den obersten russischen Wahlleiter, dann streicht er das „w“, aus „r“ wird ein „d“, nun steht dort „Tschudo“, das Wunder. Gelächter allerseits.
Renat Dawletgildejew setzt sich an den weißen Tisch in der Mitte des Studios, an dem jeden Abend ohne jegliche Tabus diskutiert wird. Der Chefproduzent des Senders ist 26 Jahre alt und damit in etwa Durchschnitt hier: Telekanal Doschd, übersetzt „Regen“, ist jung, unkonventionell und politisch. Und erlebt gerade seine Sternstunde. „Seit Beginn der Proteste hat sich unsere Zuschauerzahl verfünffacht“, erzählt Dawletgildejew. Eine Million Menschen sahen in dieser Woche tagtäglich das, was allen anderen Sendern verboten ist: Liveschaltungen von den Demonstrationen, Oppositionelle, die über den Untergang des Systems Putin diskutieren, Videos von Wahlfälschungen.
Da ist etwa dieses Video, das im Internet schnell die Runde machte: Der Filmende lässt sich zuerst in einem Auto instruieren und fährt dann von Wahllokal zu Wahllokal, um mehrfach für „Einiges Russland“ abzustimmen. Wie abgemacht, geht er immer nur zu „Tisch 1 oder 2“, wo eine eingeweihte Person sitzt, die ihm ohne Probleme einen Wahlzettel aushändigt, obwohl er nicht in der Liste steht. Fünf Minuten und 42 Sekunden dauert der Film, und der Sender strahlt ihn am Montag nach der Wahl in voller Länge aus. So populär wurde das Video, dass sogar der oberste Wahlleiter Wladimir Tschurow sich zum Kommentar genötigt sah: Alles Fälschung, ließ er mitteilen, aufgenommen in Wohnungen. „Wir wissen aber genau, dass das Video echt ist, weil wir den Autor kennen“, sagt Dawletgildejew.
25 Millionen Haushalte sind über Kabel und Satellit „potentielle“ Zuschauer, informiert der Sender. Die Ergebnisse der ersten Zuschauerumfrage werden in den nächsten Wochen bekanntgegeben. Ihre Heimat haben die 250 Mitarbeiter im „Roten Oktober“, einer ehemaligen Schokoladenfabrik aus rotem Backstein am Ufer des Flusses Moskwa, die vor einigen Jahren in eine Kultur-, Party- und Medienfabrik umgewandelt wurde. Keinen Kilometer vom Kreml entfernt ist ein place-to-be für alle Moskauer unter 40 entstanden, die cool, unkonventionell, europäisch sein wollen, die mit iPads am Mittagstisch sitzen und sich über Facebook verabreden, die mindestens Englisch sprechen und wissen, wie es in der Welt aussieht, die Spaß haben wollen, aber politisch interessiert sind. Von solchen Menschen wird „Doschd“ gemacht, und diese Menschen sind auch die Zielgruppe.
Aber wie kann dieser Sender existieren im System Putin, das in den letzten Jahren zwar Zeitungen und Radio gewisse Freiheiten ließ, aber die Fernsehkanäle zu Propagandawerkzeugen degradierte? Zum einen ist da die finanzielle Unterstützung, aber wichtiger noch die Chuzpe von Natalja Sindejewa. Die 40 Jahre alte Powerfrau machte seit Mitte der 90er Jahre Radio „Silver Rain“ zum Sender für die wachsende, selbstbewusste Mittelschicht. 2002 gründete sie für ebendiese Schicht die Zeitschrift „Bolschoi Gorod“. Und im April 2010 war die Zeit gekommen für den Sender „Doschd“.
In der Moskauer Journalistenszene beobachtete man das Unterfangen wohlwollend, aber ungläubig. Würde der Kreml dem Sender eine unabhängige politische Berichterstattung gewähren? Schnell machte der Kanal Schlagzeilen: Die Zuschauer konnten von Anfang an live zusehen, wie der Sender „gebaut“ wurde. Seitdem ist Aufrichtigkeit der große Trumpf des Senders, zwei Drittel der Zeit wird live gesendet. Am Samstagabend, nach der Demo, ist Sindejewa auf dem Bildschirm zu sehen: Da steht sie, mit verschränkten Armen, im schwarzen Kleid vor weißem Hintergrund, und nimmt ihre Journalisten in Schutz, spricht über das Adrenalin in den letzten Tagen, das manchmal dazu führe, dass die Journalisten zu weit gingen in ihrer Berichterstattung.
Es gab da diesen für viele überraschenden Besuch bei TV Doschd im Frühjahr 2010, Dmitri Medwedew ließ sich durchs Studio führen, jener Präsident, der gerne von Modernisierung und Demokratie sprach, der Ausspruch „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ stammt von ihm. Aber jener Medwedew hat sich im September selbst abgeschrieben, als er bekanntgab, dass nun wieder Wladimir Putin für das Präsidentenamt kandidieren wird. „Damit hat er eingestanden, dass er nie über irgendetwas entschieden hat“, sagt Journalist Dawletgildejew. Aus ihm spricht die Enttäuschung einer Generation.
Dass Medwedews Worte nichts bedeuten, hat der Sender in der letzten Woche zu spüren bekommen: Seitdem muss sich „Doschd“ gegen Hacker-Attacken wehren, am Mittwoch forderte die Medienaufsichtsbehörde die Aufnahmen der letzten Tage zur „Überprüfung“ an. Dawletgildejew weiß, was das bedeutet: „Sie können uns eine Warnung aussprechen, und nach der zweiten Warnung wird uns die Lizenz entzogen.“ Als i-Tüpfelchen löschte Medwedew am vergangenen Mittwoch sein Abo von „Doschd“ auf Twitter. Auf der Internetseite hat der Sender seitdem tausende Unterstützer-Kommentare erhalten. „Haltet durch, ihr seid das letzte Bollwerk der Medien“, steht da unter anderem.