DER HIMMEL ÜBER SIBIRIEN
(n-ost) – Nach zwei Minuten und zwanzig Sekunden ist das himmlische Spektakel vorbei. Dann blinzelt der erste Sonnenstrahl wieder hinter dem Mondschatten hervor, es wird wieder heller, wärmer – die Natur erwacht aus einem kurzen Mittagsschlaf. Und die 300 Schüler und Studenten aus Deutschland und Russland liegen sich in den Armen. Olga hat Tränen in den Augen: „Es war wirklich unheimlich und sehr ergreifend“, schluchzt sie. Während der totalen Sonnenfinsternis herrschte gebannte Stille. Die Jugendlichen in blauen Poloshirts sitzen mucksmäuschenstill auf dem abgewetzten Sportplatz des Jugendlagers in der sibirischen Taiga. Aufgeregt starren sie in den Himmel, durch ihre selbst gebastelten UV-Filter-Brillen hindurch. Für viele ist diese ein ergreifender Moment. Doch nicht allein wegen des astronomischen Schauspiels, sondern auch wegen der langen Reise, den damit verbundenen Anstrengungen, so scheint es. „Ich kann es kaum fassen. Eigentlich denkt man ja fast nicht, dass in Sibirien überhaupt mal die Sonne scheint und jetzt sind wir hier, um eine Sonnenfinsternis zu beobachten“, schüttelt Arne den Kopf. Über 5.000 Kilometer haben die 150 Deutschen in fünf Tagen zurück gelegt und dabei zwei Länder, die eurasische Grenze und fünf Zeitzonen durchquert: Von Berlin aus ging es erst mit dem Moskau-Express durch Polen und Weißrussland bis in die russische Hauptstadt. Dort stiegen sie in den Zug mit dem Namen „Sibirjak“ nach Nowosibirsk und legten rund 3.000 Kilometer Strecke mit der mythenumwobenen Transsibirischen Eisenbahn zurück – für viele Jugendliche das eigentliche Highlight der Reise.
Mit der Transsib zur Sonnenfinsternis: Astro-Workshop im Speisewaggon. Foto: Simone Schlindwein
Noch Stunden nach der Abfahrt drehen sich im Schlaf-Abteil Nummer neun im ersten der fünf Sonderwaggons die aufgeregten Gespräche um die Landschaft: Selbstgezimmerte Holzhäuschen mit bunten geschnitzten Fensterrahmen, Kühe und verlassene Bahnsteige rauschen an den sechs Mädchen des Albert-Schweitzer-Gymnasium und des Geschwister-Scholl-Gymnasium im nordrheinwestfälischen Marl vorbei. Sie trinken Tee aus den für die Transsib so typischen Glastassen mit dem verschnörkelten Blechhenkel und philosophietren darüber, wie sie sich Sibirien vorgestellt haben. „Dass es hier bis zu 36 Grad heiß wird und wir baden gehen können, hätte ich nie gedacht“, staunt die 16-jährige Viola. Jenseits des Ural-Gebirges war vorher noch keine der Russisch-Schülerinnen gewesen. Ähnliche Gedanken wälzt auch der 20-jährige Marvin Triebel aus Berlin. Er steht am Fenster im Flur des Schlafwaggons und schaut bedächtig nach draußen. Der Zug überquert gerade die Südausläufer des Urals, der geografischen Grenze zwischen Europa und Asien. „Verändert hat sich nicht viel“, staunt er – dieselben trostlosen Dörfer, die Müllhalden, verarmte Bauernhöfe: „Als Jugendlicher ist es sicher nicht so schön, hier aufzuwachsen“, sinniert er. Er könne verstehen, dass so viele junge Russen nach Moskau ziehen, wo doch „ordentlich was los“ sei. Marvin, der mit seinen Gitarrensongs abends gesellige Lieder anstimmt, ist einer der Teilnehmer von der Evangelischen Jugendgemeinde Berlin Frohnau. Die zwölf Gruppen, aus denen sich die junge Reisegesellschaft zusammensetzt, seien sorgfältig ausgewählt, erklärt Benjamin Spatz von der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch, welche die interkulturelle Begegnung in Sibirien organisiert. Neben sechs Schüler-Gruppen aus dem Bundesgebiet sind mit dabei: die Ortgruppe Osnabrück des Technischen Hilfswerks (THW), die Jugendfeuerwehr aus Hamburg, Mitglieder der Vereinigung für Jugendarbeit in der Astronomie, (VEGA) oder die Station Junger Naturforscher und Techniker aus dem sächsischen Weißwasser – ein kleiner Querschnitt der deutschen Zivilgesellschaft. Und jede Gruppe erfüllt im Lagerleben ihre Aufgabe: Das THW ist für den Brandschutz am Lagerfeuer zuständig und rückt bei Gewitter und Stromausfall mit Taschenlampen im Speisesaal an. Der Feuerwehr-Nachwuchs verarztet Schnittwunden und begutachtet Zeckenbisse. Marvin und seine Freunde von der Gemeindejugend verteilen Liederbücher am Lagerfeuer und die jungen Astro-Experten erklären den übrigen Teilnehmern die wissenschaftlichen Phänomene rund um die Sonnenfinsternis. Das Sibirien-Projekt verbucht die Stiftung als Erfolg. Über 500 Bewerbungen waren in der Hamburger Zentrale eingegangen. „Dabei ist Russland unter jungen Leuten mit eher negativen Vorurteilen behaftet“, erklärt Spatz. „Doch mit der Transsib-Fahrt nach Sibirien und dem astronomische Ereignis konnten wir offensichtlich das Negativimage von Russland umgehen“, sagt er zufrieden.
Herzliche Begrüßung zur Sonnenfinsternis in Nowosibirsk. Foto: Simone Schlindwein
Und auch die russischen Projektpartner freuen sich über den Besuch aus dem fernen Deutschland. Fahnenschwenkend werden die Jugendlichen am Bahnhof von Nowosibirsk empfangen. Eine junge Musikkappelle spielt zur Begrüßung. Dann geht die Fahrt mit Bussen weiter in das 30 Kilometer entfernte größte Jugendlager Russlands am Stausee des Ob-Flusses, wo auch 150 russische Jugendliche aus ganz Sibirien eintreffen. Das Lager ist für die deutschen Jugendlichen eine erste Begegnung mit den alten Sowjetzeiten.
Denn dort scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben und die letzte Komsomolzen-Gruppe erst vor kurzem abgereist. Zwischen Kiefern und Birken verstecken sich Plattenbauten und Holzhütten als Unterkünfte. Der große Speisesaal im Zentralbau riecht nach Chlorbleiche und mit den alten Aluminiumlöffeln haben vermutlich schon die Söhne der Revolution süßen Haferbrei zum Frühstück geschlürft.
Deutsch-Russische Freundschaftsspiele – Jugendbegegnung in Sibirien. Foto: Simone Schlindwein
Um das Eis zwischen Russen und Deutschen zu brechen, organisiert die Lagerleitung Eierlaufen und Schnitzeljagden, am Abend dröhnt Disco-Musik durch das Camp. Nur die VEGA-Gruppe zieht sich mit ihrem Teleskop lieber an den Strand zurück, um Sternbilder zu beobachten. „Der Jupiter war aufgegangen und den Delphin und den Schwan konnten wir gut erkennen, auch wenn die Metropole Nowosibirsk sehr viel Licht abstrahlt“, seufzt Ute, die in Trier Biogeographie studiert. Sie ist begeistert von ihren russischen Astro-Partnern, mit denen die VEGA-Mitglieder das Holzhaus teilen. „Einer von ihnen baut sogar selbst Teleskope“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Leider sei sein Englisch nicht gut genug, um sich mit ihm darüber unterhalten zu können. Doch bei der Sonnenfinsternis waren auch diese Sprachprobleme zwischen Russen und Deutschen wie weggefegt. Das Spektakel am Himmel hat sie zusammen geschweißt. „Die Reise nach Sibirien war schon aufregend genug, und jetzt noch ein solches Schauspiel. Das ist wirklich ein einmaliges Erlebnis“, sagt Rumia begeistert. ENDE
Nachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0