Permanenter Jetlag
Sobald das Börsenbarometer irgendwo auf der Welt einen Sturzflug hinlegt, packt Chris Weafer seine Koffer. Seit fast zwanzig Jahren wandert er von Markt zu Markt, stets entlang internationaler Finanzströme. Der 52-jährige Ire ist ein Arbeitsnomade in einer globalisierten Welt. Als Finanzanalyst spielt er die Feuerwehr, wenn die Wirtschaft in Irland, den arabischen Staaten oder in Asien in einer tiefen Krise steckt. Immer dann, wenn Investoren ihre Aktienanteile zusammenraffen und davonlaufen, dann kommt er, um wieder Strukturen aufzubauen, Geschäftsleuten Vertrauen einzuflößen und den Geldströmen neues Leben einzuhauchen – bis irgendwo am anderen Ende der Welt ein weiterer Geldfluss versiegt.
1998 hat Chris Weafer der Börsencrash in Moskau nach Russland verschlagen. Ein bis zwei Jahre hatte er bleiben wollen, seufzt er leicht melancholisch. Zehn Winter später ist er immer noch da. „Als Putin an die Macht kam und der Ölpreis in die Höhe schnellte, bin ich süchtig geworden“, erklärt er. Sein Blick wandert aus dem Fenster über die Moskauer Hochhausdächer hinweg. Der Himmel über der russischen Hauptstadt ist tiefgrau, es regnet im Strömen.
Der Finanzanalyst Chris Weafer, FOTO: privat
Weafer sitzt in seinem Büro im elften Stock in einem gewaltigen Glaskasten der Moskauer Zentrale der Uralsib-Finanzgesellschaft. Sein Job sei es, die Vogelperspektive zu wahren, beschreibt er sein Leben hoch oben über den Straßen. Mit den Menschen „da unten“, denen die einkaufen, sich neue Möbel in die Wohnungen stellen, Hypotheken für ihre Datscha aufnehmen, hat er persönlich fast nichts zu tun. Und sein Russisch ist auch nicht gut genug, um tief in die Gesellschaft einzutauchen. „In meinem Beruf ist es ein Fehler, sich zu integrieren“, meint er. Wenn man zu nahe an die Menschen herankomme, verliere man die Perspektive für den Markt, den man ja an ausländische Investoren verkaufen will. „Meinen Geschäftspartnern gegenüber muss ich mich so verhalten, als sei ich nie hier gewesen.“
Und eigentlich ist Chris Weafer auch nie da. Seitdem die russischen Investment-Fonds über die ganze Welt verteilt sind, lebt er hauptsächlich im Flugzeug zwischen Moskau, London, Tokio, New York oder Frankfurt. Eben erst ist er von einem Business-Trip aus Kalifornien zurückgekehrt. Drei Tage Sonnenschein, dann wieder Regenmatsch in Russland. Ein Leben ohne Jetlag kann er sich gar nicht mehr vorstellen. „Das Nomaden-Dasein macht mich müde“, gibt er zu und die Schatten unter seinen blauen Augen bestätigen dies. „Ich weiß gar nicht, wo ich gerade lebe“, sagt er. Einen Ort, den er „zu Hause“ nennt, gibt es für ihn schon lange nicht mehr.
Dabei hatte der Weltenbummler Chris eigentlich nie vor, seine irische Kleinstadt „im toten Zentrum der Insel“ zu verlassen. Doch nach dem Finanzcrash 1987 musste die Citi Bank, für die er damals arbeitete, schließen. Seitdem sind Wirtschaftskrisen sein Spezialgebiet. Der Ölboom und der anschließende Golfkrieg verschlugen ihn 1990 an den Rand der Wüste nach Abu Dabi, durch das damals noch Kamelkarawanen Richtung Dubai zogen. „Heute fährt man dort auf einer sechsspurigen Autobahn in die Megacity“, schüttelt er den Kopf. Das Leben in Entwicklungsmärkten ändert sich rasant, muss Weafer immer wieder feststellen. Und genauso schnell ist es dann auch wieder vorbei mit dem wirtschaftlichen Aufstieg.
Wie damals, 1997 in Bangkok, wo er den Zusammenbruch der Tigerstaaten managte. Asien, seufzt Weafer sehnsüchtig, sei immer sein Traum gewesen. Doch dann warfen aufgebrachte Demonstranten in Jakarta Steine nach ihm. „Die Thais haben uns überbezahlte Ausländer für die Krise verantwortlich gemacht“, sagt er. Also war es Zeit zu gehen.Für die Währungskrise in Russland fühlte er sich gut gewappnet, als er 1998 dort eintraf. Der Finanzanalyst dachte, er hätte in seinem Beruf schon alles gesehen. „Doch Moskau ist einzigartig“, schwärmt er und seine Augen funkeln als hätte Chris der Goldgräber eine Mine entdeckt: „Eine Billiarde Dollar“, wiederholt er mehrfach und lässt sich die Zahl auf der Zunge zergehen.
Eine Billiarde Dollar seien während Wladimir Putins Amtszeit aus dem Öl- und Gasgeschäft in die russische Wirtschaft geflossen. Russland habe in den vergangenen acht Jahren einen globalen Spitzenplatz erobert – der größte Entwicklungsmarkt weltweit. „Das ist einfach abgefahren“, jubelt Weafer. Dieser Steilsieg hat den Finanzanalysten zum Russland-Junkie gemacht. „Ich bin süchtig“, muss er mehrfach zugeben, während er ohne Luft zu holen Zahlen und Gewinnmargen herunterrasselt.Dann hält er plötzlich inne und guckt wieder nach draußen in den Schneeregen. Der Zahlenjongleur weiß genau, dass der Ölpreis, der das russische Riesenreich aus der Schuldenfalle gerettet hat, nicht ewig in den Himmel wachsen kann.
Die Spitze des Booms sei in Russland schon längst erreicht, warnt er bedächtig. Der Krisendoktor sieht deswegen keinen Grund für sich zu gehen. „Ich sehe gerade den aufregendsten Film meines Lebens und kann jetzt nicht nach der Hälfte aus dem Kino rennen“, lacht er und ist sich sicher: Die nächste Krise kommt bestimmt.Weafers Mission ist es nun, Russland vor einem zweiten Totalzusammenbruch zu bewahren. Und die Menschen, mit denen er eigentlich nichts am Hut hat, sind seiner Meinung nach der Schlüssel zum russischen Happy End. Die Regierung müsse Anreize schaffen, damit die aufsteigende Wirtschaftselite in Russland investiere, predigt er.
„Wenn das angesammelte Geld jetzt nicht in die Bildung und Unterstützung kleiner Start-Ups fließt“, warnt er, „dann rennen all diejenigen, die es in Russland zu etwas bringen können, ins Ausland.“ Dorthin, wo sie ohne Korruption und Bürokratie ihren Geschäften nachgehen können, zum Beispiel nach Europa.„Das Gras ist anderswo immer grüner“, weiß Weafer aus eigener Erfahrung. Das sei für aufstrebende Märkte auch ganz normal, sagt er und zuckt gelassen mit den Schultern. Doch das schrumpfende Bevölkerungswachstum sei ein großes Problem für die russische Wirtschaft. Von 69 Millionen auf 59 Millionen Werktätige werde die Arbeitskraft in den nächsten zehn Jahren sinken, prophezeit der Analyst.
Um die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften vor allem auf Moskaus Großbaustellen zu decken, sei Russland auf Gastarbeiter aus Tadschikistan, Kasachstan und Georgien angewiesen.Mit den neuen, rigorosen Ausländergesetzen schneide sich die Regierung also ins eigene Fleisch. Die gesetzliche Limitierung der Einwanderung, beispielsweise die Reduzierung der ausländischen Bauarbeiter auf ein Drittel der 750.000 Arbeiter, die 2007 in Moskau registriert waren, sei ein grober Fehler, warnt er. Die Inflation der Nahrungsmittelpreise im vergangenen Sommer ist laut Weafer darauf zurückzuführen, dass es den Georgiern nicht erlaubt war, preiswerte Lebensmittel zu importieren.
Für den Marktforscher ist ganz klar: Die russische Wirtschaft ist auf Ausländer angewiesen und umgekehrt. Der Job eines tadschikischen Familienmitglieds in der russischen Hauptstadt kann am Pamir eine ganze Familie finanziell über Wasser halten. Ähnlich verhält es sich mit den Spitzenanwälten, Wirtschaftberatern und Geschäftsleuten, die aus dem Westen nach Moskau pilgern, um in der Öl- und Gas-Oase das schnelle Geld zu machen. Auch diese Fachkräfte braucht der Markt, um die Abwanderung der eigenen Elite zu kompensieren.Doch die Regierung hat kürzlich die Ausstellung von Geschäftsvisa strenger reglementiert. „Weil das Wirtschaftswachstum zurückgeht, will man die gut bezahlten Jobs für die eigenen Spitzenkräfte sichern“, erklärt Weafer diese Maßnahme.
Doch gerade auf Experten wie ihn sei der Markt nach wie vor angewiesen. „Es muss noch eine Menge Geld in die Aus- und Fortbildung investiert werden, bevor sie uns Ausländer nicht mehr brauchen“, seufzt Weafer und nennt Abu Dabi als Beispiel für ein erfolgreiches Wirtschaftswachstum – eben aufgrund der Arbeitsmigranten: 1,3 Millionen Einwohner lebten in den 80er Jahren dort. Davon waren fast eine Million Ausländer: 950.000 Billigarbeiter aus Pakistan oder anderen Staaten und rund 50.000 Fachkräfte aus dem Westen – Experten wie Chris Weafer.
Auf diesen globalisierten Arbeitsmärkten ist in den vergangenen 20 Jahren, seitdem Chris Weafer in der Welt unterwegs ist, ein neuer Schlag Mensch entstanden. „Expat-Living“ nennt er seinen Lebensstil. Das fühlt er besonders dann, wenn er zu Geburtstagen oder Hochzeiten in seine Kleinstadt im Herzen Irlands zurückkehrt. „Da kennt jeder jeden und ich fühle mich unter denen wie ein Fremder“, lacht er und guckt dabei auch ein wenig traurig. Wenn er sich mit anderen Arbeitsnomaden an einer Bar in Moskau oder Dubai unterhält, hat er das Gefühl, mit diesen etwas gemeinsam zu haben.
„Der größte Fehler, den wir Expats machen“, sagt Weafer bedächtig, „ist, dass wir nach 20 Jahren immer noch behaupten, irgendwann nach Hause zurückkehren und uns dort wohl fühlen zu können“.Deswegen hat er irgendwann aufgehört, Irland als sein Heim zu betrachten. Doch wohin dann? Das wird Weafer oft gefragt. Und plötzlich guckt er verträumt: irgendwo vier Stunden südlich von Bangkok, am Golf von Thailand gibt es eine kleine Hütte am Meer. Dort will er sich in ein paar Jahren zur Ruhe setzen und ein Buch schreiben. „Doch momentan fällt es mir schwer, aus Russland wegzugehen“, sagt er. Nach dem zehnten Winter sei er nun auch die Depressionen gewöhnt. Außerdem, zwinkert er, „habe ich jetzt in Russland endlich Kunden, die mir immer wieder ein paar Tage im Süden bescheren.“ Dann packt er seinen Mantel und den kleinen Rollkoffer und bestellt sich wieder ein Taxi zum Flughafen.