EINE STADT – AUF ÖL GEBAUT
Auf dem EU-Russland Gipfel in Chanty-Mansijsk zeigt sich Russland von seiner wohlhabenden Seite (n-ost) – Der Lärm von Schlagbohrern und Kreissägen hallt durch die Straßen. In der Kleinstadt Chanty-Mansijsk wird Tag und Nacht gebaut: Hotels, gigantische Einkaufszentren, der neue Flughafen und das Messegelände wurden in Windeseile aus dem Boden gestampft. Die zerfallenen Holzhütten mussten modernen Einfamilienhäusern Platz machen. Kolonnen neuer, westlicher Autos verstopfen die Straßen. Kaum zu glauben: Dieses schicke Städtchen liegt mitten in der russischen Provinz, am Fluss Ob. Chanty-Mansijsk ist die Bezirkshauptstadt der gleichnamigen westsibirischen Region – eine hügelige Taigalandschaft so groß wie Frankreich. Dass der EU-Russland-Gipfel in diesem Jahr hier stattfindet, hat Symbolcharakter: Russland zeigt sich von seiner modernen und wirtschaftlich prosperierenden Seite. Und Chanty-Mansijsk ist eine gelungene Kulisse für das neue Selbstvertrauen, mit welchem Russland dem Westen gegenüber auftritt. Die Quelle dieses Reichtums sprudelt aus dem schlammigen Boden. Chanty-Mansijsk ist auf schwarzem Gold gebaut: 70 Prozent der erschlossenen Ölfelder Russlands liegen hier. Das sind sieben Prozent der weltweit bislang angezapften Erdölquellen. Und so dreht sich in dem 70.0000-Einwohner-Städtchen alles ums Öl: Vor kurzem feierte die Stadt ein Fest auf dem zentralen Platz, zwischen dem Denkmal der gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs und der bronzenen Statue der Ölarbeiter. Der Anlass: Die Förderung von insgesamt 29 Milliarden Tonnen Öl in der Region. Der stellvertretende Direktor des Kulturzentrums ist jetzt schon eifrig dabei, das Kulturfestival im September vorzubereiten – wenn die Marke von 30 Milliarden Tonnen endlich erreicht ist. „Alle Neftjaniks der Stadt bekommen umsonst eine Eintrittskarte“, sagt er stolz. „Neftjaniks“ heißen auf Russisch die Ölarbeiter.
In der Boomstadt Chanty-Mansijsk wird Tag und Nacht gebaut
FOTO: Simone SchlindweinDoch wer ist in Chanty-Mansijsk kein Neftjanik? Vor ein paar Jahrzehnten war das Städtchen zwischen den sandigen Hügeln noch ein verwahrlostes Fischerdorf. In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Bevölkerung verzwölffacht. Aus dem Dorf ist eine moderne Stadt mit gläsernen Fassaden und üppigen Einkaufszentren geworden. Das russische Öl-Mekka zieht Fachkräfte aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion an, die in der Ölstadt nicht nur arbeiten, sondern auch gut leben wollen: Pawel Sergunow, ein Bauingenieur aus Estland, lacht. „Natürlich bin ich auch einer“, sagt er. Er habe die lokale Firmenzentrale des Ölgiganten Rosneft entworfen.
Die 25-jährige Natalja Reksina aus dem kleinen, rund hundert Kilometer südlich gelegenen Fischerdorf Oktjabr schwärmt: „Für junge Leute ist es hier wunderbar, man hat so viele Möglichkeiten.“ Sie klickt durch eine Diashow verschiedener Satellitenaufnahmen der Taiga. Eben erst hat sie den Nachwuchs-Wissenschaftlerpreis ihres Forschungsinstituts ausgehändigt bekommen. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Seenbildung durch das Schmelzwasser. Was sie mit Öl zu tun hat? Natalja guckt verdutzt: „Na, die Ölfirmen müssen doch wissen, wo das ganze Wasser abfließt, damit sie ihre Bohrtürme richtig aufstellen“, sagt sie. Auch sie ist also ein Neftjanik. Ein Stockwerk über Nataljas Büro im gläsernen Forschungsinstitut summt der größte Hochleistungscomputer jenseits des Urals. Seine komplette Rechenleistung von 130 Milliarden Operationen pro Sekunde investiert auch er, wen wundert es, in die Ölförderung. Russlands Ölgigant Lukoil lässt in dem gewaltigen schwarzen Kasten gerade seismische Daten auswerten. Und selbst die örtliche, erst kürzlich eröffnete Kunstgalerie ist vom Öl gesegnet. An ihren schmucken Wänden hängen russische Klassiker, gekauft von der Tretjakow-Gallerie in Moskau oder der Eremitage in St. Petersburg – natürlich alles Ölgemälde. Daneben sind auf kleinen Schildchen die Sponsoren verzeichnet: Rosneft, Lukoil, Surgutneftegas. Wer in Chanty-Mansijsk die typische Tristesse sibirischer Kleinstädte erwartet, wird sich wundern: Armut, Arbeitslosigkeit und Alkoholprobleme – Fehlanzeige. In Chanty-Mansijsk freut sich die neu erwachte Mittelschicht, wenn die Abrissbirne vor der sibirischen Holzhütte vorfährt. In der Tschechow-Straße werden gerade die letzten Baracken platt gemacht. Die meisten stehen schon seit Monaten leer, die Fenster sind zerbrochen, die Regenrinne abgefallen. So sah es vor dem Öl-Wunder in Sibirien aus.
Die Mittelschicht freut sich, wenn die Abrissbirne vor die Tür gefahren wird
FOTO: Simone SchlindweinDie Familie Michailow wuchtet noch schnell ein paar Kisten mit Geschirr und Fotoalben in den Umzugstransporter. „Die alten Möbel lassen wir da“, freut sich Olga Michailowna. Für das neue Apartment im schicken Wohnblock um die Ecke will sie endlich eine lederne Couch-Garnitur kaufen. Laut Gesetz muss die Stadtverwaltung die Bewohner der abgerissenen Holzhäuschen mit ebenso vielen Quadratmetern entschädigen, wie diese einst bewohnt hatten, die Gemüsebeete im Garten nicht eingerechnet. Doch Olga Michailowa tauscht ihre Tomatensträucher gerne gegen die Einbauküche. Die Regionalverwaltung hat in den vergangenen fünf Jahren fast die Hälfte der Einwohner umgesiedelt. Dem Öl sei Dank, denn das schwarze Gold spült gewaltige Steuereinnahmen in die Kassen des Landkreises: umgerechnet 40 Milliarden US-Dollar jährlich. Davon bleiben 4,5 Milliarden Dollar in Chanty-Mansijsk. Der Rest geht nach Moskau. Der Ölsegen macht in der westsibirischen Region endlich all das möglich, was Ex-Präsident Wladimir Putin jahrelang versprochen hatte: Eine durchschnittliche Lebenserwartung von über 70 Jahren, ein funktionierendes Gesundheitssystem, die Modernisierung der Infrastruktur und familienfreundliche Bedingungen. Im Stakkato predigt der Gouverneur des Gebiets, Alexander Filipenko, Erfolgsnachrichten: „Wir haben eine der besten Geburtenraten in Russland. Wir investieren fast 75 Prozent in soziale Bereiche wie Kindergärten und Krankenhäuser. Wir unterstützen diejenigen, die nicht selbst für ihr Einkommen sorgen können. Wir wollen das Durchschnittseinkommen pro Person in diesem Jahr um 17 Prozent steigern“, verspricht er. Seine Augen leuchten: „Die Entwicklung unserer Region ist einzigartig.“ Alexander Filipenko hat guten Grund, dies zu behaupten. Er hat den Aufstieg von Chanty-Mansijsk selbst dirigiert. Er lenkt den Landkreis schon seit den 80er Jahren, als das kommunistische Wirtschaftssystem seinen letzten Atem aushauchte und nicht genug Benzin für die Stadtbusse aus den Zapfsäulen floss. Jetzt, wo das Barrel Öl knapp 140 Dollar kostet, regiert er nach wie vor unumstritten. Auf den ersten Blick wirkt der weißhaarige Filipenko wie ein grauer Apparatschik, der in eintönigen Worten von Moskau vorgegebene Fünfjahrespläne herunterbetet. Doch der konvertierte Ex-Kommunist ist seiner Zeit weit voraus: „Unsere Prognosen sagen: Das Öl wird weniger und in hundert bis zweihundert Jahren zu Ende gehen. Wir müssen uns heute schon um die Menschen hier kümmern“, warnt er. Seine Pläne sind ehrgeizig: Er will die Region zu einer Touristenattraktion machen, IT-Firmen ansiedeln und die Holzindustrie aufbauen. „In 50 Jahren soll mehr als die Hälfte des Bruttosozialproduktes nicht mehr von der Öl-Industrie erwirtschaftet werden, sondern aus anderen Bereichen kommen.“ Es ist schwer vorstellbar, wie aus einer Ölregion im Nordwesten Sibiriens ein Erholungsgebiet entstehen soll. Denn das eisige Klima lädt nicht einmal zu einer romantischen Schlittenfahrt ein. Die jährliche Durchschnittstemperatur in Chanty-Mansijsk beträgt minus 20 Grad. Nur in einem Monat pro Jahr fällt kein Schnee, im Winter wird es zeitweise minus 60 Grad kalt.Und trotz der prunkvollen Fassaden der neuen Einkaufs- und Geschäftszentren lassen sich die negativen Seiten des Ölrausches nicht übersehen. Hundert Kilometer jenseits der Stadtgrenze ragen riesige Feuerfackeln über den Birken- und Kiefernwäldern hervor. An den Pumpstationen wird das bei der Ölförderung anfallende Gas einfach abgefackelt – ein gewaltiger Klimakiller. „Jährlich verpufft mehr Gas in der Atmosphäre Sibiriens als ganz Frankreich verbraucht“, sagt Helmut Schreiber, leitender Umweltökonom von der Weltbank in Moskau. Die Taiga jenseits der Stadtgrenze ist stellenweise eine ölverseuchte Sumpflandschaft. Selbst der Fischfang am Ob-Fluss musste wegen der Ölpest zeitweise eingestellt werden. Die Umweltorganisation Greenpeace berichtet über die Region: Jährlich werden fast 300 Havarien mit Ölaustritten von bis zu 100.000 Tonnen gemeldet – und das sind nur die amtlich registrierten. Straßen aus Sand und Betonplatten zerfurchen die Landschaft. Eine Kolonne von 300 Lastwagen versorgt täglich nur ein einziges Ölfeld mit Technik und Ausrüstung. Pipelines ziehen sich wie silberne Schlangen durch die Sumpfgebiete. Und dennoch wagt Gouverneur Filipenko, das Wort „Ökotourismus“ in den Mund zu nehmen. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0