Russland

NOMADEN GEGEN ÖLGIGANTEN

Für die Urvölker Sibiriens ist der Ölsegen ein Fluch – sie kämpfen gegen die Umweltverschmutzung (n-ost) – Die Nomadenvölker der Chanty und Mansi, nach denen der westsibirische Gipfelort Chanty-Mansijsk benannt ist, leben hoch oben in der Taiga Westsibiriens. Dort, wo es keine Stromleitungen und keinen Handyempfang mehr gibt, wo keine Straße mehr hinführt. Das Luftkissenboot prescht mit schnellem Tempo auf dem eiskalten Ob-Fluss nach Norden. Drei Stunden dauert die Fahrt von der boomenden Ölstadt Chanty-Mansijsk bis zur kleinen Siedlung Nasim. Dazwischen liegen Jahrhunderte: In Nasim tanzen Kinder mit Masken, in bunten Trachten und Fellschuhen zwischen Zelten aus Rentierfell. Vier Frauen heizen eine offene Feuerstelle, auf der sie salzige Fischsuppe zubereiten. Die Männer sitzen am Ufer. Mit langen Nadeln stechen sie den frisch gefangenen Fischen die glasigen Augen durch, fädeln sie auf Schnüre auf. Dann trocknen die Fischketten wochenlang auf einem Holzgerüst vor sich hin.Nur in den drei kurzen Sommermonaten ist diese Zeltsiedlung am Ufer des Ob ihr zu Hause. Im Winter, wenn der Fluss meterdick zugefroren ist, wandert der Clan durch die eisige Taiga. Die Männer jagen Hirsche und Rentiere – bei bis zu minus 60 Grad Kälte. Ein hartes Leben. Doch die Chanty leben freiwillig in dieser unwirtlichen Gegend. Viele von ihnen haben zu Sowjetzeiten in Chanty-Mansijsk gelebt. Die Partei hatte sie gezwungen, auf den Kolchosen zu arbeiten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind sie in die Taiga aufgebrochen, um ihre traditionelle Lebensweise wieder aufzunehmen.
Vorräte für den Winter – die Chanty und Mansi leben vom Fischfang
FOTO: Simone SchlindweinWie einst ihre Vorfahren wollen sie unabhängig von der modernen Welt leben, erklärt Albina Dmitrowa. Die zierliche alte Frau im bunten Kleid und Fellschuhen holt frisch gebackenes Brot aus dem selbst gezimmerten Steinofen. Die roten Beeren, die den trockenen Mürbeteig versüßen, hat sie auf einer langen Wanderung durch den Kiefernwald gesammelt. Sie murmelt ein Gedicht vor sich hin, das nicht ansatzweise Russisch klingt. „Alle Völker heißen Chanty“, sagt Albina Dmitrowa lächelnd. Denn „Chanty“ sei in ihrer Sprache das Wort für „Mensch“. Neben ihr beugt sich Allessa Alexandrowna in einem roten Kleid mit bunten Stickereien über die Feuerstelle. Vorsichtig macht sie ihre Trommel aus Rentierfell heiß. Sie ist Lehrerin für Kunst und Kultur der sibirischen Völker und hat den fünf Jungs, die sich in Masken und Kostümen um sie herum aufstellen, traditionelle Tänze und Gedichte beigebracht. „Früher hat der sowjetische Staat die Kinder ins Internat geschickt und gesagt, sie sollen Russisch lernen“, erinnert sie sich an ihre eigene Kindheit. Im heutigen Russland könne sie die Kinder wieder auf Chantysch unterrichten und ihnen die Mythen und Traditionen ihres Volkes beibringen. Die Dialekte Chantysch und Mansisch stehen heute auf der Liste der bedrohten Sprachen der Unesco. Es wird geschätzt, dass nur noch zwischen 10.000 und 30.000 Menschen insgesamt die verschiedenen Dialekte beherrschen. Und mit den Sprachen stirbt meist auch die Kultur der Völker aus. Denn ihre Geschichte wird mündlich, in Form von Liedern und Gedichten, von Generation zu Generation weiter vererbt. Weil die Chanty und Mansi bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine Schrift besaßen, gibt es nur wenige Aufzeichnungen, erklärt der Linguist Wasja Gluschak. Fast drei Jahre lang reiste der russische Sprachwissenschaftler durch die Taiga und studierte die Dialekte der verschiedenen Stämme. Chantysch und Mansisch gehörten dem finno-urigischen Sprachstamm an, genau wie Finnisch, Estnisch und Ungarisch, erklärt er. „Die Chanty und Mansi sind Nomaden, deswegen unterscheiden sich die Dialekte der einzelnen Stämme grundsätzlich voneinander“, sagt Gluschak. Die Unterschiede seien mitunter so groß wie die zwischen Deutsch und Holländisch. Gluschak will ein Wörterbuch für den so genannten „Surguter“ Chanty-Dialekt entwerfen. Die Stadt Surgut liegt im Süden der westsibirischen Taiga. Die dortige Universität hatte Gluschak zugesagt, das Wörterbuch herauszugeben. Rund 6000 Wörter sammelte er in jahrelanger Kleinarbeit zusammen. Zehn zusätzliche Buchstaben musste er einfügen, um die Betonung in kyrillischer Schreibweise richtig auszudrücken. Letztlich wurde das Lexikon ein einziges Mal gedruckt und steht nun in der Bibliothek der Universität von Surgut. „Es ist wenigstens ein Anfang“, seufzt Gluschak.
Die Nomaden der Taiga leben auch bei minus 60 Grad in Zelten
FOTO: Simone SchlindweinAuch die Chantyn Lydia Sudmanowa denkt nur in kleinen Schritten. Die quirlige Frau ist Sprecherin der Siedlung Nasim. Das erkennt man an ihrem Handy, das sie in einer selbst bestickten Brusttasche um den Hals trägt. Doch Empfang habe sie nur viele Kilometer flussaufwärts, Richtung Süden, sagt sie. Beim Abendessen, zwischen Fischsuppe und Elchfleisch, erzählt Sudmanowa von ihrem erbitterten Kampf gegen die Ölfirmen. Die russischen Ölgiganten Rosneft, Lukoil, Surgutneftegas und Gasprom Neft erwirtschaften in der Region den Löwenanteil ihrer Gewinne. 70 Prozent der bislang erschlossenen Ölressourcen Russlands liegen in der westsibirischen Taiga vergraben. Das sind sieben Prozent der weltweit sprudelnden Erdölquellen. Russlands Ölboom hat die Taiga gezeichnet: Straßen aus Sand und Betonplatten zerfurchen die sumpfige Landschaft. Eine Kolonne von 300 Lastwagen versorgt täglich nur ein einziges Ölfeld mit Technik und Ausrüstung. Pipelines ziehen sich wie silberne Schlangen durch die Sumpfgebiete. Über den Kiefern und Birken lodern Gasfackeln empor. Lydia Sudmanowa guckt traurig flussabwärts. „Als sie die Brücken bauten, wurde der Fluss völlig versandet“, seufzt sie. Das Ufer in der Nähe der Siedlung sei stark verseucht, der Sand fast schwarz. Öl? Sie zuckt mit den Schultern. „Was soll es denn sonst sein, andere Industrie haben wir hier ja nicht.“ Vom Hubschrauber aus ist es nicht zu übersehen: Die Taiga ist stellenweise eine ölverseuchte Sumpflandschaft. Selbst der Fischfang am Ob-Fluss musste vor einigen Jahren wegen der Ölpest zeitweise eingestellt werden. Die Umweltorganisation Greenpeace berichtet über die Region: Jährlich werden fast 300 Havarien mit Ölaustritten von bis zu 100.000 Tonnen gemeldet – und das sind nur die amtlich registrierten.
Ölverseuchte Sumpflandschaften der Taiga – zerstörter den Lebensraum
FOTO: Simone SchlindweinDie Umweltverschmutzung hat das empfindliche Ökosystem aus dem Gleichgewicht gebracht: Wegen  des Lärms und der verseuchten Gewässer wandern Rehe und Rentiere weiter nach Norden in die Tundra. Dadurch fehlt den Nomaden im Winter das Wild zum Jagen. Und auch die Bären verschwinden. So werden die Feste zu Ehren der Bären immer seltener. Das Öl gefährdet nicht nur ihren Lebensraum, sondern auch die Tradition der Völker. Doch Lydia Sudmanowa hat Hoffnung. Jahrelang hatte der Verband der Chanty und Mansi mit den Ölfirmen verhandelt, internationale Umweltorganisationen hatten sich eingeschaltet. Gemeinsam zogen sie vor Gericht, um gegen die Umweltzerstörung zu klagen. Doch gewirkt hat letztlich vor allem eines: die Tatsache, dass das Öl nicht ewig reichen wird.Das hat auch der Gouverneur der Region, Alexander Fillipenko, eingesehen. In rund hundert Jahren, zitiert er die Prognose des örtlichen Forschungsinstituts, seien die Reserven erschöpft. „Wir müssen andere Wirtschaftszweige aufbauen“, verkündet er. Seine Pläne sind ehrgeizig: Er will Chanty-Mansijsk zu einer Touristenattraktion machen. „Unsere Region hat viel zu bieten“, erklärt er stolz. Und die Souvenir-Läden entlang der frisch gepflasterten Einkaufsstraße der Bezirkshauptstadt lassen es erahnen: Die Kultur der Chanty und Mansi soll zum Aushängeschild für das künftige Erholungsgebiet werden.  Lydia Sudmanowa lächelt. „Wir haben einen Kompromiss gefunden“, sagt sie und zeigt auf zwei kleine Holzhäuschen neben den Zelten. „Dort sind unsere Gäste nachts sicher vor den Bären.“ Die Chanty und Mansi-Stämme betreiben jetzt Ökotourismus und haben in St. Petersburg eine Reiseagentur gegründet. Seitdem verschlägt es immer mehr Ausländer in die Zeltsiedlungen am Ob-Fluss, erzählt Lydia: „Sogar der Präsident einer amerikanischen Ölfirma wohnte mit seinem Sohn zehn Tage lang hier.“
Rituelle Tänze erzählen von der Geschichte der Chanty und Mansi
FOTO: Simone SchlindweinSeit sie Touristen anlocken, unterstützt Gouverneur Alexander Fillipenko die Völker der Chanty und Mansi. In einem größeren Dorf, 20 Minuten von der Siedlung Nasim entfernt, soll nun eine Schule gebaut werden. Die Betonplatten hat die Bezirksverwaltung schon mit dem Schiff dort abladen lassen. Auch ein Krankenhaus und eine Kühlhalle mit eigenem Stromgenerator wurden gebaut. Lydia Sudmanowa strahlt. Doch die Situation hat sich nur ein wenig verbessert, das muss sie zugeben. Die mangelnde Ausbildung und die Alkoholsucht der Männer, klagt sie, seien schwer in den Griff zu bekommen. Dass Präsident Dmitri Medwedew dem Chanty-Dorf Kasim nun einen Besuch abstatten will, bedeutet Lydia Sudmanowa viel: „Es ist ein Zeichen, dass wir auch in Moskau ernst genommen werden.“ Und zwar nicht nur von den Politikern, sondern auch von den Ölfirmen. Bevor er Präsident wurde, war Dmitri Medwedew Aufsichtsratschef des Gasriesen Gazprom, dessen Tochterfirma für das Ölgeschäft Gazprom Neft in der Region acht Bohrfelder unterhält. Immerhin verpflichtet sich Gazprom Neft auf seiner Webseite, die Umwelt zu achten und mit den Nomadenvölkern zusammenzuarbeiten. Lydia Sumanowa kann bestätigen, dass das klappt: „Sie haben uns Motorschlitten zur Verfügung gestellt, mit denen wir im Winter die Pipelines auf Lecks kontrollieren“, sagt sie. Und so kann Medwedew mit seinem Besuch bei den Chanty und Mansi dem Westen eine ganz neue Seite der russischen Ölindustrie vorführen: die umweltbewusste und sozial verantwortliche – um auch dieses schlechte Image etwas aufzubessern. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


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