„Wer frei ist, ist eine Gefahr”
ostpol: Herr Tuschi, Sie haben für Ihren Dokumentarfilm „Der Fall Chodorkowski“ fünf Jahre lang das Leben eines wegen Steuerhinterziehung verhafteten russischen Oligarchen seziert. Warum?
Cyril Tuschi: Ich war vor einigen Jahren auf einem sibirischen Filmfestival in Chanti-Mansijsk und überrascht von dem Reichtum einerseits und der Menschenleere andererseits. Man erzählte mir, dass das eine Ölstadt sei. Der Typ, der alles aufgebaut habe, sitze im Gefängnis, weil er sich mit Putin gestritten hat. Das fand ich als Spielfilm-Idee sehr spannend.
Und dann?
Tuschi: Dann habe ich gemerkt, dass es um komplexere Vorgänge geht. Also habe ich mir gedacht, ich muss einen Dokumentarfilm machen, weil ich sonst einen schwachen Spielfilm abliefern würde, der der Realität nicht gerecht wird.
Was sagen Sie Kritikern, die ihnen vorwerfen, Sie würden einen verurteilten Oligarchen in der Opferrolle präsentieren?
Tuschi: Ich sage: ‚Hallo, Herr Kritiker, schauen Sie sich den Film doch bitte noch einmal an!‘ Aber Spaß beiseite. Der Film ist eindeutig nicht darauf angelegt, zu sagen, ob Chodorkowski schuldig ist oder nicht.
Ist er schuldig?
Tuschi: In manchen Sequenzen wird deutlich, dass Chodorkowski auch Beamte bestochen hat, aber vor allem, dass er seine Familie im Stich gelassen hat. Er hat so viel Schuld auf sich geladen, dass er sein ganzes Leben in Therapie verbringen könnte, um alles aufzuarbeiten. In vielen Interviews wurde Chodorkowski Mord und Diebstahl in großem Maßstab vorgeworfen. Aber das konnte ich nicht verifizieren. Hätte Putin Beweise für solche Verbrechen, hätte er sie schon längst auf den Tisch gelegt und ihn nicht „nur“ wegen Steuerbetrugs verurteilt.
Sie haben mehr als siebzig Zeitzeugen befragt und mehr als 180 Stunden Interviewmaterial aufgezeichnet. Welches Bild hatten Sie am Ende von Chodorkowski?
Tuschi: Er ist sehr klug und wandlungsfähig. Aber er ist keiner, der sich allem anpasst. Genau das werfen ihm viele als Dummheit vor, dass er nicht sagt: ‚Okay, ich gestehe alles, was Ihr wollt, nur lasst mich jetzt hier raus.‘ Und ich glaube, er hat seine eigene Macht überschätzt.
Es ist Ihnen ja etwas Unfassbares gelungen: Sie haben persönlich mit Chodorkowski gesprochen. Wie kam es dazu?
Tuschi: Es war der Anfang des zweiten Prozesses und ich war jeden Tag da. Dann kam Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie war Prozessbeobachterin und durfte eine Minute lang mit Chodorkowski sprechen. Wer zuvor darum gebeten hatte, wurde des Saales verwiesen.
Und dann brachten Sie sich ins Spiel?
Tuschi: Ja. Ich musste einen schriftlichen Antrag stellen, am nächsten Tag hatten wir die Zusage für ein zehnminütiges Interview mit Chodorkowski. Ich war ziemlich aufgeregt. Sehr beeindruckt haben mich dann Chodorkowskis Ruhe und die Tatsache, dass sie ihn noch nicht gebrochen hatten.
Sie haben angedeutet, dass Putin das Urteil gesprochen hat. Wie unabhängig ist die russische Justiz?
Tuschi: Ich bin viel schockierter, dass der Europäische Gerichtshof nicht unabhängig ist. Er hat vor kurzem geurteilt, dass die Zerschlagung von Yukos nicht politisch motiviert gewesen sei. Das regt mich auf.
Vor der Weltpremiere der Dokumentation im Februar auf der Berlinale wurde in Ihr Studio eingebrochen. Die Computer, auf denen Sie den Film montiert haben, wurden gestohlen. Wurden die Täter inzwischen gestellt?
Tuschi: Ja, meine Kreditkarte, die damals auch verschwand, wurde bei einem Typen aus Neukölln gefunden. Bis dahin hatte ich richtig Angst und bin mit einem Messer durch die Gegend gelaufen. Aber es scheint so zu sein, dass nur drei Idioten auf Raubzug gewesen sind. Ich habe jetzt nicht mehr so viel Angst und werde auch zur Filmpremiere am 2. Dezember nach Moskau fliegen.
Wie sieht Ihr Leben nach Chodorkowski aus?
Tuschi: Ich arbeite hart daran, dass ich im Dezember ein bisschen Urlaub machen kann. Und danach bereite ich meinen neuen Spielfilm vor – über Julian Assange. Er will das Gute und schafft dabei manchmal das Schlechte, eine ziemlich spannende Figur.