Russland

„ICH WAR DIE NUMMER 14511“

Die Russin Anna Stekolnikowa, einst Häftling im KZ Ravensbrück, ist dankbar, dass die Deutschen ihr heute zuhören (n-ost) – Mit zittrigen Händen hält Anna Stekolnikowa den Anstecker mit der Nummer fest. „Ich war Nummer Vierzehn Fünf Elf“, stellt sich  die 84-jährige Russin vor. Es sind die wenigen deutschen Worte, die in ihrem Gedächtnis eingebrannt sind, seit über 60 Jahren. An dieser Nummer – 14511 – haften die Erinnerungen an den Krieg gegen den Faschismus, an das Lager in Ravensbrück, die Folter, den Hunger, das Krematorium. Sie braucht diese Zahlenabfolge, um in Gedanken wieder an diesen Ort und in jene Zeit zurück zu kehren. Durch die ganze Stadt ist Stelnikowa an diesem verregneten Morgen mit der U-Bahn in die Moskauer Hilfsstation „Sosdradanie“  gefahren, die von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ finanziell unterstützt wird. 110 pflegebedürftige NS-Opfer erhalten dort häusliche Hilfe oder psychologische und juristische Beratung. Dort hat sie in den späten 90er Jahren gearbeitet, tausende Briefe von Häftlingen im KZ Ravensbrück gelesen und überprüft, ob die Fakten stimmen. Um das Entschädigungsgeld aus Deutschland hätten sich viele beworben, nickt sie. „Doch nicht immer stand in den Anträgen auch die Wahrheit.“
Anna Stekolnikowa in der Hilfsstation „Sosdradanie“
FOTO: Simone SchlindweinDie alte Frau nippt vorsichtig an ihrem heißen Tee. Ihr rosa Seidenschal ist sorgfältig gebunden. Es sei ein besonderes Ereignis, ausgerechnet einer deutschen Journalistin ihre Erlebnisse im Konzentrationslager zu erzählen, sagt sie. „Danke, dass Sie mir zuhören“, flüstert sie sanft. Durch ihre dicken Brillengläser strahlen die blauen Augen der zierlichen Dame voller Güte. Dann zeigt sie schwarz-weiße Bilder aus einem Buch: „Das ist die Wand, an der man die Menschen erschossen hat“, erzählt sie und blättert weiter: „Und hier der Verhörstuhl, auf dem auch ich gefoltert wurde.“ Die nächste Seite zeigt das Krematorium, ein dunkles Ofenrohr. Anna Stekolnikowa war 18 Jahre alt, Studentin an der Pädagogischen Hochschule der südrussischen Stadt Orijol, als die deutsche Wehrmacht am 21. Juni 1941 in die Sowjetunion einfiel. Die alte Dame, die heute Mühe hat, den Weg vom Supermarkt nach Hause zu finden, kann sich noch genau an diesen Tag erinnern: „Es war ein Sonntag und wir feierten am Abend im städtischen Theater das Ende unseres zweiten Studienjahres“, erzählt sie. Da hörten sie im Radio die Rede des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow. In dieser Nacht begann Stekolnikowas siebenjähriger Leidensweg. In einem Partisanenverband wurde die junge Frau mit den blonden Locken an die Front geschickt. „Meine Aufgabe war es, zu berichten, welche deutschen Einheiten unsere Dörfer besetzten“, nickt sie und schweigt lange. Während die deutschen Flugzeuge tief über die Hausdächer hinweg flogen und die russischen Bauern davon liefen, streunte das junge Mädchen durch die verlassenen Dörfer. Keine 40 Kilometer von ihrer Heimatstadt Orijol entfernt, verfolgten sie plötzlich „Polizisten“ durch die Hinterhöfe. So nannte man damals die russischen Kollaborateure, erklärt sie. Drei deutsche Soldaten nahmen sie gefangen, brachten sie zusammen mit anderen Häftlingen nach Dresden. Aus ihrer Handtasche kramt sie einen Zettel hervor, auf dem sie in sauberer Handschrift Daten notiert hat, und rückt ihre Hornbrille zurecht. Ihr Zeigefinger wandert langsam durch die Stationen ihres Lebens: „Vom 17. Oktober bis zum 30.Oktober 1941 saß ich dort im Gefängnis“, fasst sie kurz zusammen. „Danach kam das Frauen-Lager Ravensbrück.“ Sie seufzt, schweigt lange, nippt an ihrem Tee und streicht sich die grauen Haare glatt. „Das Lager“, beginnt sie und schweigt dann wieder. Ihr Finger sucht auf dem Papier nach klaren Fakten. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hat, sprudeln Zahlen aus ihrem Mund. Es sind die Nummern, die ihr helfen, das Chaos ihrer Gefühle zu ordnen: „Wir waren 132.000 Frauen und Kinder. 92.000 von uns hat man vernichtet. Ich lebte im Block 24 – zusammen mit Tschechen, Polen, Jugoslawen und anderen Russen. Wir mussten morgens um vier Uhr aufstehen und bekamen 150 Gramm Brot, eine Tasse Ersatzkaffee und zum Mittagessen zwei oder drei Kartoffeln. Zur Bestrafung gab es 25 bis 100 Peitschenschläge.“ Sie sucht in ihren Notizen nach weiteren Zahlen, doch findet keine. Dann legt sie die Brille zur Seite und lässt ihren Erinnerungen freien Lauf. Wie viele KZ-Häftlinge empfindet sie die morgendlichen Selektionen als traumatische Erfahrungen. Sie kann sich an die deutschen Kommandos erinnern: „Los, los, auf, auf“ schrien die Wärter den Häftlingen nach. „Wir wussten nie, ob wir ins Krematorium oder zur Feldarbeit auf die umliegenden Bauernhöfe geschickt werden“,  flüstert sie. Sie lächelt, als sie von den rohen Kartoffeln erzählt, die sie heimlich ins Lager schmuggelten. Doch das Lächeln verschwindet schnell. Manchmal mussten die Häftlinge aus dem nahe gelegenen Fluss Sand und Kies ausheben. „Wir standen bis zu den Hüften im Wasser und durften nicht miteinander sprechen“, sagt sie. Als sie doch einmal heimlich flüsterten, habe die Lageraufseherin, Frau Binz, ihre Nummer notiert. Zur Strafe musste sie stundenlang klatschnass auf einem windigen Hügel stramm stehen. Der Wachhund von Frau Binz umkreiste sie Zähne fletschend. „Wenn ich umgefallen wäre, hätte er mich tot gebissen, wie viele Gefangene vor mir“, sagt sie. Dann kehrt ein Lächeln in ihr faltiges Gesicht zurück: Die polnische Blockälteste habe ihr anschließend den Ersatzkaffee aufgewärmt und ihr ein paar Krumen Brot in die Hand gedrückt.
Schreiben des Internationalen Dienstes
FOTO: Simone SchlindweinBevor Anna Stekolnikowa fortfährt, greift sie wieder zu ihrer Lederhandtasche. Ihre dünnen Hände zittern, fast kann sie die kleine Pillendose nicht öffnen. „Ich lebe faktisch nur noch von Tabletten“, entschuldigt sie sich. Die Dokumente, die sie dann hervor zaubert, hat sie sorgfältig aufbewahrt. Sie deutet auf das Schreiben des Internationalen Suchdienstes in Genf, das sie als politische Gefangene ausweist. Darauf ist ein Datum verzeichnet: der 30. April 1945. An diesem Tag wurde sie von sowjetischen Truppen befreit. Doch nicht in Ravensbrück, sondern in einer kleinen Stadt an der Ostsee. „In Kolonnen mussten wir nach Norden marschieren, es war kalt und feucht“, erinnert sie sich an den Todesmarsch. Und plötzlich leuchten ihre Augen aufgeregt, sie zeigt nach oben: „Wir hörten die Flugzeugmotoren und wussten, das sind die Unsrigen!“. In alle Richtungen seien sie und ihre Mitgefangenen davongerannt sind. „Wir waren ja so hungrig und die Deutschen im Dorf haben uns Essen gegeben“, sagt sie. Als die Rote Armee die Ostseeregion besetzte, wurde ihr von deren Militäradministration ein Zimmer bei einer deutschen Familie zugewiesen. Bis 1948 hat sie dort gelebt und im Stab der Militärtruppe gearbeitet, die kranken Gefangenen versorgt, in der Soldatenküche gekocht. Bei der Frage, warum sie solange in Deutschland geblieben ist, lächelt sie verschmitzt: „Da gab es einen jungen Offizier, den ich später in Moskau geheiratet habe.“ Dieser hat ihr die nötigen Dokumente verschafft, um auch in der Sowjetunion als Gefangene und Heldin des Krieges anerkannt zu werden. Bis heute hat sie den Veteranen-Ausweis im blauen Lederetui ständig bei sich. Damit darf sie nach wie vor umsonst mit der U-Bahn und dem Zug fahren. Auch eine Wohnung in Moskau wurde ihr und ihrem Mann vom sowjetischen Staat in den 50er Jahren zugewiesen. Dort lebt sie bis heute von einer kleinen Rente, die kaum zum Leben reicht, wie sie sagt. Sie hat den Deutschen schon lange verziehen. „Menschen sind Menschen und bleiben Menschen“, sagt sie immer wieder. Adolf Hitler und Heinrich Himmler seien die Bösen gewesen, nicht das deutsche Volk. „Die Entschädigungszahlungen der deutschen Regierung helfen mir heute zu überleben“, nickt Stekolnikowa. In Moskau werde ja alles täglich teurer: das Brot, die Medikamente, der Strom. „Natürlich ist das eine Art Wiedergutmachung und eine große Hilfe für mich und meine Familie. Ich danke den Deutschen dafür“. Sie hegt keinen Gram. Anna Stekolnikowa kann sich nicht erinnern, wann sie das Geld aus dem Entschädigungsfond erhalten hat. Sie weiß auch nicht mehr, wie viel es genau war, und dafür schämt sie sich ein bisschen. „Mein Gedächtnis wird jeden Tag schlechter“, murmelt sie. Doch es muss Mitte der 90er Jahre gewesen sein, überlegt sie: „Es war eine gute Hilfe damals, denn mein Sohn ist schwer krank.“ Seit den Aufräumarbeiten in Tschernobyl 1986 leidet er an der Strahlenkrankheit. Anna Stekolnikowa pflegt ihn und hat ihm von dem Geld aus Deutschland einige Behandlungen bezahlen können. Auch sie selbst konnte durch den Kontakt mit der deutschen Stiftung ihre traumatischen Erinnerungen etwas verarbeiten. Das bedeute ihr viel, sagt sie und hält sich immer noch an dem Anstecker mit der Nummer 14511 fest. Im vergangenen Jahr hat die Stiftung sie zu einem Besuch in die Gedenkstätte Ravensbrück eingeladen. Deutsche Frauen seien dort auf sie zugekommen und hätten sich für das Leid entschuldigt, erzählt sie. Damit habe sich ihre Haltung zu den Deutschen verändert. „Die Deutschen sind gute Menschen“, sagt sie. Im KZ hätten viele Deutsche mit ihr gelitten und Brot geteilt.
 
An den Ort des Schreckens zurückzukehren, fiel Anna Stekolnikowa nicht leicht. „Mir wurde übel, als ich das Lager betrat“, sagt sie. Das Krematorium, die Baracke Nummer 24, die Kammer, in welcher sie mit 15 Frauen gehaust hatte – der Ort war voller schlimmer Erinnerungen. „Und als ich sah, wie sauber in der Baracke heute alles ist, wurde ich ohnmächtig“, erzählt sie. Doch diese Erfahrung hat dem Ort auch einen Teil des Schreckens genommen. Sie zeigt auf den Anstecker aus Ravensbrück. Die Nummer 14511 bleibt ein Teil ihres Lebens. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


Weitere Artikel