MOSKAU IM FUSSBALLTAUMEL
Beim Champions-League Finale zeigt sich die russische Hauptstadt von einer ganz neuen Seite (n-ost) – Völlig erschöpft lässt sich Andy Williamson auf die Couch fallen. Ohne seinen blauen Fußball-Schal und sein Chelsea-Fan-Triko auszuziehen, kringelt er sich zusammen. Im Halbschlaf krächzt er noch das Fanlied. „Den Pokal hätten wir wirklich verdient“, murmelt er. Nach fast zwei Stunden Spielzeit stand es beim Champions-League-Finale in Moskau Eins zu Eins. Dann verlor der FC Chelsea im Elfmeterschießen gegen Manchester United. Und bei Williamson siegt letztlich die Erschöpfung über die Enttäuschung.Der 34-jährige Englischlehrer hat buchstäblich eine halbe Weltreise hinter sich. Der gebürtige Brite lebt und arbeitet in Südkorea. Seine zwölfstündige Reise ging von Seoul über Peking nach Moskau, und alles, um beim Finale seines Lieblingsvereins dabei zu sein. 72 Stunden darf sich Williamson in Russland aufhalten, dann muss er den Rückflug antreten. So lauten die gelockerten Visabedingungen, die der neue Präsident Dmitri Medwedew per Dekret erlassen hat. Die Fußballtickets gelten während des Spieltages als Visa-Ersatz, für genau 72 Stunden. „Das hat am russischen Flughafen super funktioniert“, erzählt Williamson bei seiner Ankunft. Nur bei der Ausreise in Seoul hatte er Probleme: „Die wussten dort gar nichts von den Sonderregelungen und wollten mich ohne Visum nicht nach Russland fliegen lassen“, berichtet er.Der neue Minister für Sport, Tourismus und Jugend, Witali Mutko, kann sich glücklich schätzen. „Wir wollen unsere großartige Stadt von der besten Seite präsentieren“, hatte er vor dem Spiel angekündigt. Er wolle beweisen, dass Russland in der Lage ist, internationale Sportereignisse in dieser Größenordnung auszurichten. Damit will sich die Regierung die nötigen Vorschusslorbeeren für die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 einheimsen. Das ist ihr, scheint es, gelungen. „Wir haben mit dem Schlimmsten gerechnet“, erzählt auch ein Chelsea-Fan aus London. Doch die Reise nach Moskau sei reibungslos verlaufen. „Als wir am Flughafen ankamen, hat man uns freundlich und sogar auf Englisch direkt zum Express-Train gelotst“, erzählt er begeistert: „Wir mussten nicht einmal ein Zugticket kaufen.“Der Journalist aus London lehnt an einem Absperrgitter auf dem Roten Platz. Um ihn herum feiern englische und russische Fußballfans gemeinsam, singen Lieder, kicken sich gegenseitig Bälle zu. Vor einer Glasvitrine mit der glänzenden Pokal-Attrappe reihen sich hunderte Fans in einer Schlange. Sie alle wollen ein einziges Foto schießen. „Wer braucht noch Tickets“, schreit der Engländer in die Runde. Er verkauft die Karten seiner Freunde für 200 Euro. „Beiden war die Reise nach Moskau letztlich zu teuer“, zuckt er mit den Schultern. 140 hatten sie für die begehrten Eintrittskarten in England bezahlt, doch die Flugpreise und Hotelkosten hätten ihr Budget gesprengt. So ging es wohl vielen englischen Fans. In den vergangenen Tagen wurde der Schwarzmarkt in Moskau und im Internet mit Resttickets überschwemmt. Noch vor einer Woche lagen die Preise für einen simplen Rangplatz bei 3.000 bis 4.000 Euro. Zu Beginn der Woche fielen sie auf 400 bis 500 Euro. Am Spieltag selbst wurden die Resttickets rund um das Stadion für 200 Euro verhökert. Letztlich blieben dann vor allem im Chelsea-Fanblock einige Sitzreihen leer. Dennoch kann die Innenstadt der russischen Metropole den Ansturm der 50.000 Fußballbegeisterten kaum bewältigen. Im Moskauer Feierabendverkehr quetschen sich die Fans in roten Manchester-Shirts oder im blauen Chelsea-Outfit in die U-Bahn, um vom Roten Platz zum Luschniki-Stadion unterhalb der Sperlingsberge zu fahren. Fünf Stationen weit singen ManU-Fans in roten Schals ihre Fanlieder. Drei Chelsea-Anhänger drängeln sich dazwischen und versuchen, sie zu übertönen. Doch sie haben keine Chance. Am Ausgang der Metrostation werden die Anhänger der Vereine in zwei verschiedene Richtungen gelotst. „Manchester United nach rechts, Chelsea nach links“, brüllen russische Polizisten auf Englisch durch ihre Megafone. Spätestens da wird ersichtlich: Die Manchester-Fans sind deutlich in der Überzahl.Doch Chelsea bekommt lautstark Unterstützung von den russischen Fußball-Fans. Immerhin gehört der legendäre Londoner Club dem russischen Oligarchen Roman Abramowitsch. Und so ist das Finale auch für die Russen ein kleines Heimspiel. Die Moskauer Kneipen mit Fernsehbildschirmen sind pünktlich zum Anpfiff rappelvoll. Gebannt verfolgen die russischen Fußballbegeisterten das Spiel, trommeln auf die Tische und stapfen mit den Füßen, um „ihre“, die Abramowitsch-Mannschaft, anzufeuern. „Russland, Russland“, singen sie im Chor. Auch die Kellner bekommen nach der ersten Halbzeit eine Chance, dem Spielverlauf zu folgen: Die Bierfässer sind nach einer Stunde restlos leer. Rechnungen werden verteilt und es wird abkassiert. So sind die Bars im Zentrum nach dem Elfmeterschießen schon leer, bevor die Mannschaft von Manchester United den Pokal überreicht bekommen hat. Geknickt torkeln die russischen Fans im strömenden Regen zur U-Bahn, die in dieser Nacht ausnahmsweise bis vier Uhr fährt. Sie versuchen, ihren Zug zu erwischen, bevor die britischen Fan-Horden in die Metro strömen. Auch Chelsea-Fan Williamson aus Korea kann es nach Abpfiff kaum erwarten, aus dem Stadion zu kommen. „Ich musste so verzweifelt auf die Toilette, dass ich nicht einmal traurig sein konnte“, lacht er. Und während sich die Sitzreihen in den Chelsea-Blocks allmählich leeren, schwenken Manchester-Fans noch lange in den Fanblöcken gegenüber ihre roten Schals und Banner. Vielleicht verlief auch deswegen nach Spiel-Ende alles friedlich und die U-Bahn-Waggons waren nicht allzu überfüllt. „Es war ein verdammt langer Tag und schon ziemlich spät, als wir aus dem Stadion kamen“, stöhnt Williamson, als er am nächsten Morgen seine Sachen packt. Er will noch einmal den Roten Platz und die Erlöserkathedrale besichtigen, bevor er die Reise zurück nach Südkorea antritt. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0