DER RUSSISCHE HEINTJE WIRD PRÄSIDENT
Dmitrij Medwedew legt heute seinen Eid auf die Verfassung ab und zieht in den Kreml ein(n-ost) – Er sieht aus wie der erwachsene Kinderstar Heintje, ein Schwarm aller Schwiegermütter. Doch anstatt auf Schlager steht der neue Präsident Russlands Dmitrij Medwedew auf Rock. Bereits im Alter von 13 Jahren gab der junge Dmitrij sein Taschengeld für Platten seiner Lieblingsrockbands Deep Purple, Pink Floyd oder Led Zeppelin aus. Damals – Ende der 70er Jahre - war die Musik in der Sowjetunion noch verpönt. Kürzlich spielten Deep Purple im Kreml zu Ehren des scheidenden Gasprom-Aufsichtsratschefs Medwedew ein Ständchen. Im heutigen Russland scheint nichts mehr unmöglich. Auch nicht, dass ein gerade mal 42-jähriger Jurist, der sich sein Studium in St. Petersburg zum Teil mit Straßenfegen finanziert haben soll, zum mächtigsten Mann des größten Flächenstaates der Erde aufsteigt.Vorgänger Wladimir Putin wird zukünftig als Premierminister im Weißen Haus unter einem Porträt Medwedews Platz nehmen. Doch viele Kommentatoren fragen sich, ob der Amtsübergabe im Kreml tatsächlich auch eine Machtübergabe folgt. Werden womöglich zukünftig zwei Porträts die russischen Amtsstuben wie einen Doppeladler schmücken?Dass der scheidende Zar Putin, der Russland in den zurückliegenden acht Jahren dominierte wie nur wenige Herrscher vor ihm, seinem Ziehsohn das Zepter in die Hand gibt und ihm freiwillig den Knopf für das zweitmächtigste Atombombenarsenal der Welt überlässt, scheint fast undenkbar – wirkt der jungenhafte, sanfte Medwedew nach außen hin doch „schwach“ und „wenig durchsetzungsfähig“. Ist der Mann nur eine Marionette in der Hand des Strippenziehers Putin?„Medwedews Persönlichkeit ist von Putins starkem Einfluss geprägt“, erklärt Medwedews ehemaliger Rechtsprofessor an der Leningrader Staatsuniversität, Walerij Musin. Und ähnlich wie ein kleiner Bruder seinem größeren Vorbild immer einen Schritt auf den Fersen ist, so folgte auch Medwedew seiner Leitfigur Schritt für Schritt die Karriereleiter hinauf. Beide besuchten den Unterricht an der juristischen Fakultät bei Anatolij Sobtschak, dem späteren Bürgermeister von St. Petersburg. Dieser rief seine Studenten nach Amtsantritt zu sich ins Petersburger Rathaus. Medwedew arbeitete als Rechtsberater im Komitee für Auslandsbeziehungen, das Putin leitete. 1999 folgte er ihm nach Moskau, wo er ihn nun neun Jahre später im Präsidentenamt ablöst.Putin rechnet damit, dass der Imitator Medwedew, dessen Grundschullehrerin erzählte, er habe stets die Handschrift von anderen nachgeahmt, auch seine Politik fortsetzen wird. Auf dem Abschiedstreffen mit Angela Merkel im März erklärte er der Bundeskanzlerin: „Sie werden es mit ihm auch nicht einfacher haben als mit mir“. Medwedew werde zwar frei sein, seine liberalen Ansichten zu beweisen. Doch er sei nicht weniger patriotisch, prophezeite Putin. Merkel wurde ihrerseits von Medwedew - ganz Heintje - mit einem offenherzigen Lächeln und Blumen zum Frauentag begrüßt.Der neue Präsident demonstrierte in den vergangenen Wochen, dass er sich nicht als Strohmann fernsteuern lässt. „Der Präsident lenkt Russland und das kann laut Verfassung nur einer sein“, erklärte er in einem Interview mit der Zeitschrift „Itogi“. Es werde unter ihm „keine zwei, drei oder fünf Machtzentren geben.“ Damit verweist er Putin eindeutig auf den Co-Pilotensitz. Konflikte zu meistern, das hat der Absolvent der ältesten Juristenschule des Landes von der Pike auf gelernt. „Er ist sehr sachlich und überhaupt nicht emotional“, erklärt das deutsche Aufsichtsratsmitglied von Gasprom, Burckhard Bergmann, der den moderaten Führungsstil Medwedews seit vielen Jahren kennt. Dies dürfe man aber nicht mit Schwäche verwechseln. Im Gegenteil, bei Debatten in der Chefetage des Gasprom-Turms ließe Medwedew die Mitglieder zwar ausreden. „Aber er führt die Diskussion dann zum Ergebnis“, erklärte Bergmann.Doch nicht nur bei Gasprom, sondern bei den Intrigen-Spielchen hinter den Kremlmauern weiß sich Medwedew durchzusetzen. Während Putins erster Amtszeit stieg dessen Gefolgsmann zum stellvertretenden Chef der Präsidialverwaltung auf, wurde 2003 sogar deren Leiter und koordinierte Putins Tagesgeschäfte. Er kennt also nicht nur die Routinen, sondern auch die Strukturen in Russlands Black Box, in der Macht vor allem über persönliche Beziehungen ausgeübt wird.Und auch über ein solches Netz loyaler Genossen verfügt der Petersburger Zivilist im Moskauer Machtapparat bereits. Als jemand, der angeblich nie im Geheimdienst gedient hat, stützt er sich auf seine ehemaligen Kommilitonen der Petersburger Rechtsfakultät, die Putin an die Entscheidungsstellen in den Gerichten und bei Gasprom gehievt hatte. Darunter sind auch Medwedews engste Freunde aus Studienzeiten, mit denen er 1991 gemeinsam eines der ersten bürgerlichen Gesetzbücher in Russland veröffentlichte: der Vize-Verwaltungschef der Gazprom-Bank Ilja Jelisejew, der Chef des Schiedsgerichts Anton Iwanow und Michail Krotow, Gesandter des Präsidenten im Verfassungsgericht. Russische Politologen verheißen, dass Medwedew in den folgenden Wochen das politische Schachbrett mit weiteren ehemaligen Klassen-Kameraden bestücken wird. „Ziwiliki“ nennen sie seinen Clan bereits – ein konkurrierendes Netzwerk zur Hardliner-Clique der Geheimdienstler, den „Silowiki“.Die Tageszeitung „Kommersant“ berichtete, dass die beiden wichtigsten Vertreter der „Silowiki“, Igor Setschin und Wiktor Iwanow, gemeinsam mit Putin in das Moskauer Weiße Haus – dem Sitz des Ministerpräsidenten - umziehen und zentrale Regierungsstellen bekleiden werden. Das macht es Medwedew einfacher, das Kommando hinter den Kremltürmen zu übernehmen. Setschin, der bisherige Vize der Präsidialverwaltung gilt als größter Feind Medwedews. Als Chef des größten russischen Ölkonzerns Rosneft hat er sich mit dem Gasprom-Aufsichtsratschef um den mächtigsten Einfluss im Staatsbusiness gezankt. Putins Umzug ins Weiße Haus bedeutet für Russland eine neue Herrschaftsakrobatik: Zum ersten Mal geht nicht alle Macht im Land vom Kreml aus. Dmitrij Furman, russischer Historiker von der Akademie der Wissenschaften, sieht Russland damit an einem Scheideweg. Medwedew stehe vor der Wahl: Entweder er folgt der autoritären Logik des Systems und zieht alle Macht an sich. Oder er lässt seinen Versprechen Taten folgen, den Rechtsstaat ernst zu nehmen. Durch die angekündigte Doppelspitze könne „eine Art realer Gewaltenteilung“ entstehen. Jetzt muss sich der junge Jurist, der dem russischen Rechtsnihilismus den Kampf angesagt hat, beweisen, ob er in dieser Konstellation eine Balance hinbekommt.ENDE
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