Russland

Er läuft und läuft…

Ältester Atomreaktor Europas steht seit über 60 Jahren Mitten in Moskau(n-ost) - Hinter gewaltigen Mauern wird auf dem Gelände des Kurtschatow-Instituts gehämmert, gebohrt und geschraubt. Die einst geheime Atomwaffenschmiede der Sowjetunion wird rechtzeitig zu ihrem 65-jährigen Jubiläum am 17. April herausgeputzt. Arbeiter ziehen neue Gebäude hoch, renovieren die alten Fassaden. Nur im Herzen des Forschungszentrums erstreckt sich unberührt eine grüne Wiese so groß wie ein Fußballfeld. Die Wiese hat es in sich, liegt unter ihr doch die Wiege des sowjetischen Atomprogramms: der älteste Reaktor Europas: „F-1“. Er wurde im Dezember 1946 in Betrieb genommen – und er läuft bis heute.„Der Reaktor ist in einem exzellenten Zustand und kann sicherlich hundert Jahre lang laufen“, verkündet Nikolaij Ponomarijow-Stepnoi, Vizepräsident des Instituts. Obwohl er zugeben muss, dass einige Teile des Geländes radioaktiv verseucht sind, sei dieser Bereich sicher und der Graphitreaktor würde bis heute für wissenschaftliche Experimente eingesetzt. 
Rosa Backsteinhaus. Darin befindet sich die Einstiegsluke zum F1-Reaktor
Simone SchlindweinInsgesamt befinden sich auf dem Gelände im Nordwesten der russischen Hauptstadt, dessen fünf Kilometer lange Mauer das Hochsicherheitsterritorium einkreist, zwölf Forschungsreaktoren. Fünf davon wurden in den vergangenen Jahren abgeschaltet. Rings um das Kurtschatow-Institut sprießen derzeit hohe Wohntürme aus dem Boden. Vom Fenster der 35-stöckigen Apartmentblocks aus müsste man die grüne Wiese sehen können, unter welcher die Brennstäbe vor sich hin glühen. Das war nicht immer so. Das Institut lag bei seiner Gründung 1943 außerhalb der Hauptstadt. Josef Stalin nannte das hochgeheime Laboratorium damals „Labor Nummer zwei“ und erklärte den Chef des Geheimdienstes NKWD, Lawrentij Berija, für den Bau der Atombombe verantwortlich. Dieser wiederum beauftragte den Physiker Igor Kurtschatow zusammen mit fünf weiteren Wissenschaftlern, die Forschung an der Wunderwaffe voranzutreiben. Schon damals befand sich der Eingang in das Labor auf einer grünen Wiese. Bedeckt von einem großen Zelt, das die sowjetischen Militärs nicht aus den Augen ließen. Als die Amerikaner im August 1945 ihre Atombombe über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abwarfen, trieb Stalin die Atomphysiker zur Eile an. Überhastet starteten sie an Weihnachten im Dezember 1946 den ersten Reaktor Europas mit dem Codenamen „F1“. Das Uran, das in diesem Kernreaktor gespalten wurde, stammte aus Überresten des deutschen Atomwaffenprogramms, das die Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands konfisziert hatten. „Das gesamte Kurtschatow-Institut ist nach Kriegsende nach Deutschland geflogen, um nach den Überresten des deutschen  Atomprojekts zu suchen“, erzählt der Historiker Reiner Karlsch, der vergangenes Jahr das Buch „Uran für Moskau“ veröffentlicht hat. Durch die Uran-Funde in Deutschland hätten die Physiker in der Sowjetunion knapp ein Jahr gespart, erklärt Karlsch. In der Sowjetunion habe es damals kaum Uranminen gegeben.Der F-1 Reaktor, in dem 1946 zum ersten Mal in Europa eine kontrollierte Kettenreaktion gelang, ist bis heute in Betrieb. Rund 4.900 Wissenschaftler des Kurtschatow-Insituts leben und arbeiten in den Gebäuden rund um die unterirdischen Graphitblöcke. Sie hüten den Nukleus wie einen Schatz. Und auch Michail Kowaltschuk, Direktor des Instituts und enger Vertrauter des scheidenden Präsidenten Wladimir Putin, strahlt wenn er aus dem Fenster auf die Wiese blickt. Putin, Datschen-Nachbar seines jüngeren Bruders Jurij, war vergangenes Jahr zu Besuch, um das Forschungszentrum zu besichtigen, erzählt Kowaltschuk stolz. Denn auch heute, 65 Jahre nach der Gründung, hat die Regierung sein Institut wieder mit bahnbrechenden Entwicklungen beauftragt. Auf Initiative des Präsidenten wurde das Kurtschatow-Institut zur koordinierenden Institution im Bereich der Nano-Forschung ernannt. Die Teilchen im Größenbereich von einem Milliardstel Meter sollen es möglich machen, neue Typen von Atomreaktoren „über hundert Jahre lang laufen zu lassen“, schwärmt Institutsleiter Kowaltschuk.  Die Atomenergie erlebt derzeit in Russland eine Renaissance. In den vergangenen Monaten sind gigantische Staatskonzerne aus der Taufe gehoben worden, die sowohl die Nanotechnologie als auch die Atomindustrie unter jeweils einem staatlichen Schirm bündeln. Das Kurtschatow-Institut spielt in beiden Bereichen die entscheidende Rolle. EndeNachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87


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