Fremdgehen für den Weltfrieden
Der Hospitality Club ist eine Art Kommune 1 des Internet-Zeitalters: Die ganze Welt wird zur Wohngemeinschaft. 400.000 Menschen in 219 Ländern gehören bereits der nicht-kommerziellen Mitschlafzentrale im Internet an, die vom Dresdner Veit Kühne gegründet wurde. Die Club-Mitglieder stellen kostenlos Übernachtungsplätze zur Verfügung und reisen im Gegenzug zu ihren Kollegen in aller Welt. Wildfremde Menschen lernen sich so über Grenzen hinweg kennen und basteln gemeinsam am Weltfrieden. Der Club funktioniert dank einer großen Zahl von Freiwilligen. Doch bei denen wächst die Angst, der Gründer könnte die Idee nach dem Vorbild von StudiVZ oder YouTube zu Geld machen. Big-Business statt Friedensnobelpreis?
„Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte“. Vesna hat dies geschrieben. Ich kenne sie nicht. Sie kennt mich nicht. Aber Vesna hat eine Wohnung im Zentrum von Belgrad und ich suche dort auf der Durchreise ein Bett für eine Nacht. Das Internet hat uns zusammengeführt. Genauer gesagt, die Seite Hospitalityclub.org. Vesna ist mein erster Versuch, in die Welt des kostenlosen Übernachtens vorzustoßen.
Es ist stockfinster, als der Zug aus Richtung Budapest in Belgrad eintrifft. Was der Zweck meiner Reise sei, wollte der serbische Grenzpolizist wissen. Allzu viele Grenzen gibt es in Europa nicht mehr, an denen Westeuropäern noch skeptische Fragen gestellt werden. Die EU und Serbien – seit Slobodan Milosevic sind sie weit von einer Liebesbeziehung entfernt. Balkankriege, ethnische Säuberungen, Nato-Bomben, der schier unlösbare Streit um das Kosovo, brennende Botschaften.
Vesna stellt keine Fragen. Vesna ist nicht da. Weil sie im Stress ist, lässt sie einfach ihren Haustürschlüssel unter der Fußmatte und gewährt so einen 37-jährigen, ihr unbekannten Deutschen Einlass. Nur eine schmusebedürftige Katze passt auf den Computer, die Bücher, die Bilder und die Designermöbel auf.
Schlafgelegenheit mit Vesnas Katze in Belgrad / Andreas Metz, n-ost
Infokasten
Weltweite Mitschlafgelegenheiten
Der
Schweizer Bob Luitweiler soll kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der erste
gewesen sein, der ein Netzwerk von kostenlosen Privatquartieren
aufbaute. Er gründete dazu die Friedensorganisation Servas. Später
entstanden kleinere Netzwerke für Studenten, Tramper, Radfahrer oder
Frauen. Das Internet-Zeitalter ermöglichte es dann, eine weltweit
zugängliche Plattform aufzubauen. Als lange Zeit professionellstes
Angebot konnte sich ab dem Jahr 2000 die vom damals 22-jährigen Dresdner
Veit Kühne begründete Seite hospitalityclub.org durchsetzen. Ihr
gehören derzeit rund 400.000 Mitglieder in 219 Ländern an.
Ab dem Jahr 2003 folgte die ebenfalls nicht-kommerzielle Seite couchsurfing.com, die vom damals 24-jährigen Iren Casey Fenton gestartet wurde und aktuell sogar fast 500.000 Mitgliedern in 226 Ländern auflistet. Als Gegenentwurf zu diesen beiden, von Einzelpersonen geprägten Angeboten, entstand in jüngster Zeit bewelcome.org. Deren Gründer wollen eine transparente Vereinsstruktur schaffen, die allen Mitgliedern Mitspracherechte bei der Weiterentwicklung einräumt.
„Der Hospitality Club ist ein nicht-kommerzielles Projekt“, heißt es
auf der Internet-Seite. Ziel sei es, Menschen zusammenzuführen und über
internationale Freundschaften etwas für den Weltfrieden zu tun. Eine Art
Kommune 1 des Internet-Zeitalters also. Die Fortsetzung von
Flower-Power mit elektronischen Mitteln. Ein ständiges, globales Bed-In.
Um Teil der Gemeinschaft zu werden reicht es aus, einen elektronischen
Steckbrief mit ein paar persönlichen Angaben in englischer Sprache
auszufüllen. Dieser wird von freiwilligen Helfern geprüft und nach ein
paar Wochen kommt ein Passwort und die Tür zu den weltweiten
Mitschlafgelegenheiten öffnet sich.
Die Regeln sind einfach:
Niemand ist dazu gezwungen, Mitglieder aufzunehmen. Niemand darf Geld
für Übernachtungen nehmen. Um Missbrauch zu verhindern, sind die
Mailadressen der Mitglieder nicht offen einsehbar, die erste
Kontaktaufnahme läuft über den Server des Hospitality-Clubs. Bei jeder
Anfrage ist die Passnummer anzugeben, vor Ort sollen sich die Gäste dann
ausweisen. Für etwas Orientierung sorgen die Steckbriefe im Internet.
Dort können sich die Mitglieder mit ihrem Leben präsentieren, ein
Passbild hochladen und sich gegenseitig als Gäste oder Gastgeber
beurteilen. Wer sich danebenbenimmt, muss mit einem negativen Eintrag
rechnen.
Das System hat sich Veit Kühne aus Dresden ausgedacht:
am 11. Juli des Jahres 2000 beim Rauchen einer indonesischen
Gewürzzigarette, wie es in der Heldensaga des Clubs heißt. Kühne war
damals 22, hatte bereits ganz Lateinamerika durchtrampt und verschiedene
kleinere Bettenbörsen kennen gelernt. Doch erst das Internet, die
Entwicklung einer benutzerfreundlichen Webseite und der kostenlose
Zugang ließen die Sache abheben: 750 Personen wurden im ersten Jahr
Mitglied, mittlerweile sind es fast 400.000 in 219 Ländern.
Es
gibt rund 2.000 ehrenamtliche Helfer, die Neu-Mitglieder betreuen,
Chat-Rooms moderieren oder lokale Treffen organisieren. Deutschland hält
mit aktuell 63.500 Mitgliedern den Spitzenplatz. Es folgen die USA,
Frankreich und Polen. Selbst Vietnam bringt es auf über 1.000
Mitglieder. In der West-Sahara sind fünf zu finden und in Ost-Timor
immerhin noch drei. Der Vatikan ist bislang nicht vertreten. Noch nicht.
Veit
Kühne hat sich ein klares Ziel gesetzt: Er will mindestens eine Million
Menschen gewinnen und den Hospitality Club im 21. Jahrhundert zur
typischen Form des Reisens machen. Solange dies nicht erreicht ist,
reist Kühne um die Welt. Seit über fünf Jahren ist er unterwegs – nicht
ununterbrochen, aber oft monatelang. Als ich ihn ans Telefon bekomme,
trampt er gerade durch Portugal. „Eines Tages“, hofft Kühne, „wird jeder
in ein beliebiges Land reisen können in dem Wissen, dass er dort mit
offenen Armen begrüßt wird.“
Serbien besteht den Test. Gegen 1.30
Uhr nachts taucht Vesna endlich auf. Sie ist knapp 30, Möbeldesignerin
und organisiert gerade eine Ausstellung mit ihren eigenen Kreationen.
Gegen 7.30 Uhr muss sie dort schon wieder hin. Viel Zeit zum Reden und
zur Arbeit am Weltfrieden bleibt leider nicht. Aber vielleicht lässt
sich das per Mail noch nachholen, jetzt, da wir uns kennen. An einer
Pin-Wand hängen Zettel von Reisenden aus Litauen, Frankreich, und der
Türkei. Als ich gehe, hefte ich mein Dankschreiben dazu und stelle der
Katze noch etwas Wasser hin. Dann lege ich den Schlüssel zurück unter
die Fußmatte.
Wie typisch ist Vesna für den Hospitality Club? Der
Versuch, kurzfristig auch im Kosovo, Mazedonien und anderen Ländern
entlang der Reiseroute eine Mitschlafgelegenheit zu finden, scheitert.
Selbst die 15. Anfrage an ein Mitglied aus Istanbul bleibt
unbeantwortet. Liegt es an meinem Foto, meinem Steckbrief? Als
Neustarter kann ich dort noch keine Empfehlungen von anderen Mitgliedern
vorweisen. Offenbar hat nicht jeder so ein Gottvertrauen wie die Serbin
Vesna.
Erst auf der Rückreise durch Rumänien klappt es wieder:
In Brasov (Kronstadt) in Transsilvanien werde ich am Bahnhof von Lucica
und Duni erwartet. Die beiden sind Ende 50, sprechen Deutsch aber kein
Englisch. Den Hospitality-Club-Steckbrief im Internet hat die jüngste
Tochter für sie ausgefüllt. Weil diese, wie auch die übrigen vier
Geschwister aus dem Haus und weit weg sind, fehlt es dem Ehepaar an
Gesellschaft.
Lucica und Duni in Brasov/Rumänien – Karpfen für den Gast / Andreas Metz, n-ost
Ich
beziehe das ehemalige Kinderzimmer und bleibe 24 Stunden, in denen sich
ein Tsunami rumänisch-siebenbürgischer Gastfreundschaft über mich
ergießt: Erst wird ein Karpfen, später ein Huhn aufgetischt und ein
Ausflug in die Karpaten und ein Stadtrundgang durch Brasov organisiert.
Bei einem befreundeten Café-Besitzer muss ich den Apfelstrudel probieren
und als gruselige Krönung des Aufenthaltes befördert mich Duni noch auf
die 40 Kilometer entfernte Dracula-Burg Bran. Zum Abschied überreicht
mir das Ehepaar eine Foto-CD von den Stationen meines Besuchs und ein
Care-Paket für die weitere Reise. Bezahlen musste ich keinen Cent, nur
versprechen, demnächst auch mal meine Eltern vorbeizuschicken. Nebenbei
erzählte Duni noch, dass er wegen einer Krebserkrankung vor ein paar
Jahren von den Ärzten schon aufgegeben worden war. Dass er lebe, sei ein
tägliches Wunder. Vielleicht behandelt er deshalb jeden Gast, als sei
er der letzte seines Lebens?
Erst die unsichtbare Vesna in
Belgrad, dann diese schier überwältigende Gastfreundschaft in Brasov.
Dazwischen rätselhafte Funkstille im Netz. Der Berliner Erik Hoeppe hat
ähnliche Erfahrungen gemacht. Für einen Barcelona-Ausflug habe er einmal
hundert Personen anschreiben müssen. „15 Anfragen, das ist doch nix. Es
gibt ziemlich viele Karteileichen.“ Allerdings könne es auch passieren,
auf vier Anfragen gleich vier Zusagen zu bekommen. Der 32-jährige
Hoeppe ist seit drei Jahren Club-Mitglied, hat in der Zeit über 20
Reisende bei sich in Berlin beherbergt und ist selbst durch ganz Europa,
den Kaukasus und Zentralasien gereist. Um möglichst zuverlässig in ein
Bett zu finden, ist er auch Mitglied bei Couchsurfing.com geworden.
Dieses ebenfalls nichtkommerzielle Internetangebot wurde 2003 von einem
Iren gegründet, funktioniert nach demselben Prinzip und bringt es
offiziell sogar auf fast 500.000 Mitglieder.
Ich treffe Erik
Hoeppe beim monatlichen Stammtisch der Berliner
Hospitality-Club-Gemeinde in einer russischen Kellerkneipe mit
englischem Namen in Mitte. Berliner sind arm aber sexy – also die ideale
Zielgruppe. Mit 8.400 Mitgliedern hält die Stadt den Rekord. 35
Interessierte sind an diesem Abend gekommen. Die ganze Welt schnurrt auf
ein paar Biertische zusammen: Deutsche, Russinnen, Kolumbianerinnen,
ein Mexikaner und ein Neuseeländer teilen sich russische Spezialitäten
und kubanische Cocktails. Von Sonnenaufgängen an der Küste Sardiniens
wird erzählt, von Sprachkursen in New Orleans und von Schamanen in
Moskau.
Derartige Treffen, so erfahre ich, sind die nächste
Stufe im Club-Gefüge. Wer mehr machen möchte als nur Bettenhüpfen, der
bewirbt sich als so genannter Volunteer, engagiert sich dann
ehrenamtlich für die Internet-Seite des Clubs oder organisiert
Mitgliedertreffen in seiner Stadt. Ein Sommercamp in Frankreich vor ein
paar Jahren sei quasi das „Woodstock des Hospitality Clubs“ gewesen. Und
einmal seien 430 Mitglieder aus 36 Ländern zu einer Neujahrsparty nach
Riga geflogen. Die Berliner Sektion organisiert jährlich ein
mehrtägiges, feuchtfröhliches Zeltlager an einem Badesee.
Dass es
im Mitschläfer-Imperium aber nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen
sondern auch Sorgen unter den Mitgliedern gibt, wird an diesem Abend
ebenfalls deutlich: Der Hospitality Club basiert auf der losen
Verabredung vieler Menschen. Es gibt keine Rechtsform. Volunteers
leisten ehrenamtliche Arbeit, können zwar in Foren diskutieren, aber
letztlich nicht über Dinge mitentscheiden. Das sorgt für Frust. Den
Zugang zur Webseite hütet Veit Kühne, auf den deshalb nicht alle gut zu
sprechen sind. Ähnliche Kritik äußern Mitglieder der
Couchsurfing-Plattform, die immer noch vom Gründer Casey Fenton
kontrolliert wird. In Zeiten, in denen Medienkonzerne Milliarden für
Internet-Communities wie Facebook, YouTube, Xing, MySpace oder StudiVZ
auf den Tisch legen, sind die Profile hundertausender reisefreudiger
Fremdschläfer ein Schatz, der Begehrlichkeiten wecken könnte – etwa bei
Outdoor-Ausrüstern, Tourismuszentralen, Reiseverlagen, Produzenten von
Verhütungsmitteln oder gar Geheimdiensten. Beim Hospitality Club gibt es
bereits Google-Anzeigen auf der Seite. Bei Couchsurfing werden
„Donations“, also freiwillige Spenden eingesammelt und damit sogar ein
paar Mitarbeiter finanziert. Also doch Big-Business statt
Friedensnobelpreis?
Veit Kühne kennt das Getuschel um seine
Person und reagiert darauf. Der Code für die Seite werde bald offen
einsehbar sein, „damit Programmierer eine größere Motivation haben und
das Angebot weiter entwickeln.“ Der 30-Jährige räumt dabei ein, dass
dies auch eine Reaktion auf den Erfolg von Couchsurfing und deren
schicker Web-Seite sei. Aktuell sucht Kühne mit anwaltlicher Hilfe auch
nach einer passenden Rechtsform für den Hospitality Club. Aber wie
verwaltet man ein Netzwerk, das 400.000 Mitglieder in 219 Ländern hat?
Wie viel Basisdemokratie verträgt der organisierte Weltfrieden?
Die
Aussicht, bald einem eingetragenen Verein vorstehen zu müssen, behagt
Kühne jedenfalls nicht. Vereine seien oft schwerfällig und letztlich
doch nur „Pseudodemokratien“, bei denen sich vielleicht fünf Prozent der
Mitglieder an Abstimmungen beteiligten. „Du wirst immer Leute haben,
die sich auf Posten wählen lassen, nur um ihr Ego zu puschen.“ Mit
demokratischen Prozessen kennt sich Kühne aus: Für die FDP saß er in
ganz jungen Jahren einmal in einem Stadtrat. Heute sagt er: „Ich habe
keinen Bock auf Parteipolitik. Ich denke, dass ich die Welt auf meine
Weise schneller verändern kann, als würde ich im Landtag sitzen.“
Niemals habe er den Gedanken gehabt, mit dem Hospitality Club Geld zu
verdienen. Und dabei werde es bleiben. Die Google-Anzeigen auf der Seite
dienten nur zur Finanzierung der steigenden Server-Kosten.
Bereits
Anfang 2009 hofft Kühne, die angepeilte Zahl von einer Million
Mitgliedern zu erreichen. Aber auch danach sei für ihn nicht Schluss.
„Der Hospitality Club wird ein Projekt sein, das mich mein ganzes Leben
lang begleiten wird.“ Nicht nur Kühnes Leben hat der Club verändert.
Statistiken, wie viele Biographien durch das organisierte Betthüpfen in
neue Bahnen gelenkt wurden, gibt es nicht. Kühne selbst war jedenfalls
gerade auf der Hochzeit eines deutsch-polnischen Paares, das durch den
Club zusammen fand. Es dürfte nicht das einzige sein.
Mit dem Rucksack durch den Osten – Szene aus Warschau / Andreas Metz, n-ost