Deutscher Ingenieur stellt Moskau auf den Kopf
Roland Lipp will mit Straßen auf Hausdächern das Verkehrschaos stoppen(n-ost) – Wenn der Feierabendverkehr in Moskau rollt, dann verwandelt sich die Innenstadt in einen Verkehrsdschungel. Das allabendliche Hupkonzert setzt ein, Abgase färben die Hauswände grau. Drei Stunden braucht Annatoli Kossakow von seinem Büro im Zentrum in das Wohnviertel am Stadtrand. Der Anwalt steckt mit seinem BMW in einer Seitengasse fest. „Wofür habe ich mir denn ein schnelles Auto gekauft?“, stöhnt er. Im Moskauer Stau käme selbst ein Invalide im Rollstuhl schneller vom Fleck. Damit liegt Kossakow gar nicht so falsch. Das russische Statistik-Institut IRN hat ausgerechnet: Die Durchschnittsgeschwindigkeit in Moskau beträgt 16 Kilometer pro Stunde. Jeder der drei Millionen Autofahrer der Hauptstadt steckt monatlich etwa elf Stunden im Stau fest. Denn die Zahl der Autos habe sich in den vergangenen Jahren verfünffacht, erklärt Igor Lubaschewski vom Physikinstitut der Akademie der Wissenschaften. Er untersucht, wie sich die Stadt zu Stoßzeiten „in einen einzigen Stau verwandelt“. Sein Fazit: Nicht allein die Masse der Pkws verursacht die Totalblockade, sondern die Stadtstruktur an sich. Am Morgen pendeln die Leute ins Zentrum, wo sich Büros und Läden konzentrieren. Am Abend fahren sie zurück in die Wohngebiete am Stadtrand. In vier Jahren, so die Befürchtung der Stadtverwaltung, bricht der Verkehr in Moskau komplett zusammen.
Wenn der Verkehr kollabiert - Feierabendstau am Kreml
Simone SchlindweinDoch jetzt gibt es jemanden, der behauptet, er könne den Kollaps nicht nur verhindern, sondern die Stadt sogar in eine Grünanlage verwandeln. Und: In dieser könnten sogar drei Mal so viele Wagen fahren wie bisher. In einem Restaurant, in dem das Hupkonzert deutlich zu hören ist, sitzt seelenruhig Roland Lipp aus Brandenburg. Der Professor der Ingenieurswissenschaften kritzelt Linien auf ein Stück Papier und stellt die Stadt damit einmal auf den Kopf: Unten flanieren Fußgänger durch Parkanlagen, auf den Dächern der Bürogebäude und Shoppingzentren fahren Autos entlang. Die Abgase ziehen nach oben weg, der Lärm wird durch Schallschutzwände gedämpft. Unter den Dach-Straßen liegen kilometerlange Parkgaragen. Von dort aus sollen die Geschäftstüchtigen über Fahrstühle ihre Büros in den unteren Etagen erreichen. „Straßenhaus“ nennt Roland Lipp seine Baukästen. Glaubt man dem „Erfinder“, wie er sich selbst nennt, dann lassen sich damit 15 Millionen Euro täglich einsparen: Die Benzinkosten würden sich um 44 Prozent verringern, Motor- und Straßenschäden nicht so häufig auftreten. Sieben Tonnen Kohlendioxid weniger würden laut Lipp pro Tag die Luft verschmutzen. Und Autofahrer wie der BMW-Fan Kossakow könnten mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 80 Kilometer in der Stunde durch die Metropole düsen. New York, Chicago, Tokio, Shanghai, Hongkong – Lipp hat sämtliche Metropolen der Welt bereist. Doch am Ende hat er sich Moskau ausgesucht, um sein Konzept zu verwirklichen. Vor zwei Jahren war er auf der 14-spurigen Leningrader Chaussee im Zentrum stecken geblieben. Da kam ihm die Idee: „Eine solche Stadt kann man nicht auf eine Etage legen“, sagt er.
Moskau in eine Grünanlage verwandeln: Modelle der Straßenhäuser
Simone SchlindweinWenn Lipp auf die Pläne der Stadtverwaltung zu sprechen kommt, schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. Er zeigt auf den Bebauungsplan: 87 neue Parkhäuser wurden kürzlich in Auftrag gegeben. In der Stadt mit den höchsten Immobilienpreisen Europas ist das ein teures Unterfangen. Mit seiner Idee, rühmt sich Lipp, will er auch den Immobilienmarkt sanieren. Wo heute noch die Leningrader Chaussee die Stadt zerfurcht, könnten sich seine Straßenhäuser dann wie ein Wurm durch die Stadt ziehen. „Wenn die Stadtregierung das genehmigt, stehen die Investoren Schlange bis nach Wladiwostok“, zwinkert Lipp. Dieses Argument hat den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow hellhörig gemacht. Im vergangenen Jahr berief er eine Arbeitsgruppe ein, der Lipp regelmäßig die Türen einrennt. Gemeinsam mit den deutschen Firmen Siemens und Knauf präsentierte er sein Konzept nun auch dem Stadtparlament. Am nächsten Tag schrieb der Abgeordnete Iwan Nowitzki einen Brief an Bürgermeister Luschkow und bat darum, eine Teststrecke zu bauen. Jetzt wartet Lipp gespannt auf die Entscheidung. Die Pläne für die 1,6 Kilometer lange Pilotstrecke hat der Ingenieur schon in der Aktentasche. „Bayerische Meile“ nennt er den Straßenzug mit darunter liegenden Geschäftsräumen. Zwei Auf- und Abfahrtsstraßen schlängeln sich am Rande der Fünf-Etagen-Häuser spiralförmig in die Höhe. Vom angeschlossenen Kawkaski Boulevard lässt es sich wie in einem Parkhaus nach oben kurven. Siemens und Knauf haben Interesse bekundet, in das Projekt mit einzusteigen. „Wir beobachten mit großem Interesse die weitere Entwicklung“, erklärt Knauf-Sprecher Jörg Lange. Der Siemens Russland-Sprecher Nikita Kuschkin zweifelt noch, ob solche Häuser wirklich bewohnbar sind, wenn Autos über die Dächer hinweg rollen. Doch wenn sich die Stadt dafür entscheidet, sei das ein sehr interessantes Projekt.Noch wuchert Gestrüpp auf dem für die Teststrecke vorgesehenen Grundstück im Süden Moskaus. Dort reihen sich Garagen unter Strommasten. Die Hochspannungsleitung will Lipp in einen Versorgungskanal im Inneren der Straßenhäuser hinein verlegen. Mit diesem Prinzip ließen sich seinen Berechnungen nach 1.500 Kilometer lange Straßenhäuser bauen. Nach Angaben der Abteilung für Transport würden schon 450 Kilometer neue Straßen in Moskau ausreichen, um das Verkehrsproblem in den Griff zu bekommen. Der Brandenburger Ingenieur ist sich sicher: Er kann die laut der Weltgesundheitsorganisation schmutzigste Stadt Europas innerhalb von acht Jahren in eine lebenswerte Megacity verwandeln. „Den wichtigsten Menschen habe ich schon auf meiner Seite“, schmunzelt er, „und das ist der Moskauer Bürger an sich.“ Lipp schaut durch die verrußten Fensterscheiben auf die achtspurige Straße. Dort ist der Verkehrsfluss mittlerweile komplett blockiert.
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