„Stalin wird niemals sterben“
Vor 55 Jahren starb der Diktator an einem Schlaganfall - doch in Russland lebt er noch immer(n-ost) - Die Hose des Diktators ist durchnässt. Schwer atmend liegt Josef Stalin auf dem Diwan im großen Empfangssaal seiner Datscha am westlichen Stadtrand Moskaus. Fast vier Tage lang siecht der 73-Jährige nach einem Hirnschlag besinnungslos vor sich hin. Seine Leibärzte, die er noch nicht verhaften hat lassen, setzen ihm Blutegel in den Nacken und flößen dem "Stählernen" schwarzen Tee ein. Sie sind in Panik, es geht um sein aber auch um ihr Leben. Kurz bevor Stalin am Abend des 2. März zusammenbricht deckt er noch eine angebliche Verschwörung der Kremlärzte gegen sich auf. Er beschuldigt sie, jüdische Spione im Dienste Amerikas zu sein, lässt hunderte Mediziner im ganzen Land hinrichten.
Seine Leibärzte haben Angst, eine endgültige Diagnose über den Zustand des Despoten abzugeben. Lawrentij Berija, der Chef des gefürchteten Geheimdienstes NKWD, wandert im getäfelten Sitzungssaal am hölzernen Tisch neben dem Diwan auf und ab. Stalins Tochter Swetlana erinnert sich in ihren Memoiren an jene Tage in der Datscha "Blischnaja" ("die Nahe") zwischen Birken und Fichten. "Man machte Elektrokardiogramme, Röntgenaufnahmen der Lunge... Man brachte aus irgendeinem Institut einen Apparat für künstliche Beatmung. (…) Das schwerfällige Aggregat stand da, ohne benutzt zu werden. Alle zeigten sich bemüht, zu schweigen wie in einem Dom."
Gedenken an Josef Stalin in dessen georgischer Heimatstadt Gori
Alexander KlimchukDa kommt Stalin noch einmal zu sich. "Er öffnete plötzlich die Augen und ließ seinen Blick über alle Umstehenden schweifen. Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig ... dieser Blick ging im Bruchteil einer Sekunde über alle hin, und da - es war unfasslich und entsetzlich, ich begreife es bis heute nicht -, da hob er plötzlich die linke Hand und wies mit ihr nach oben, drohte uns allen..." Am Abend des 5. März stellen die Ärzte Stalins Tod fest. Berija küsst den Toten noch einmal zärtlich auf die Stirn. Dann kleiden die Ärzte den leblosen Körper in dessen geliebte Generalsuniform. Ein weißes Auto fährt vor und bringt ihn zum Haus der Gewerkschaft, wo der Leichnam zunächst aufgebahrt wird. Später fand er seinen Platz neben Lenin im Mausoleum vor den Kreml. "Er lag dort vollkommen friedlich", erinnert sich Wiktor Jerofejew. Als Sohn von Stalins Übersetzer gehörte der damals 6-Jährige zu den Mitgliedern der Kreml-Familie, die Abschied vom Volksvater nehmen durften. "Er lag hinter Lenin. Beide Körper waren in ein mystisches rotes Licht getaucht", erzählt Jerofejew. "Ich war beeindruckt. Stalin war der erste Tote, den ich in meinem Leben sah."Der bekannte russische Schriftsteller kann sich noch gut an die März-Tage des Jahres 1953 in Moskau erinnern. Tausende Menschen strömten auf die Straßen und zogen in Richtung Stadtzentrum. Aus den Lautsprechern drang Beerdigungsmusik. "Auf der Gorkistraße vor unserem Haus gab es ein furchtbares Massaker", erinnert sich Jerofejew, "die Menschen trampelten sich beim Trauermarsch gegenseitig zu Tode". Eine gute stalinistische Kindheit
"Der gute Stalin" hat Jerofejew seine Autobiografie genannt und damit, wie er erklärt, einen doppelten Vatermord begangen: den Mord an Stalin als geliebter Vaterfigur und an seinem eigenen Vater, der ein enger Vertrauter des Diktators war und diesen bis heute bewundert. Um die damaligen Tränen des russischen Volkes verstehen zu können - eines Volkes, dem der grausame Despot soviel Leid, Hunger und Tod gebracht hat - muss man die Rolle Stalins hinterfragen. "In den meisten Familien spielen autoritäre Väter die Stalin-Figur", erläutert Jerofejew den provokanten Titel seines weltweiten Bestsellers. Sie seien totalitär und moderat zugleich, mit viel Verständnis. "Aber sie wollen dich auch erziehen", erklärt er, "so wie Stalin das sowjetische Volk zu einem neuen Typ Mensch erziehen wollte". Auch sein Vater sei ein guter Stalin gewesen, nickt er.Jerofejews Kindheit war eine glückliche, aber auch eine stalinistische Kindheit. Sein Vater genoss als enges Mitglied des Hofstabes viele Privilegien. Er übernachtete zumeist im Kreml, die Familie lebte in einer luxuriösen Altbauwohnung im Stadtzentrum Moskaus. "Stalin war gut zu mir", erinnert sich der heute 61-jährige Autor - obwohl er den Despoten nie persönlich zu Gesicht bekommen hatte. Doch sein Vater bewunderte diesen über alles. Er glaubte an ihn und seine Mission: "Mein Vater war ein idealer Stalinist", so Jerofejew.
Doch der Schriftsteller ist sich auch sicher, dass sein Vater immer auf Messers Schneide arbeitete. Schließlich waren bereits unzählige Parteiangehörige, Militärs und Kremlmitarbeiter des Generalissimus' dessen Misstrauen und Verschwörungsmanie zum Opfer gefallen. Selbst seine Freunde und Revolutionsgefährten hatte er in Schauprozessen verurteilen und hinrichten lassen. "Wenn Stalin auch nur ein weiteres Jahr länger gelebt hätte, wäre auch mein Vater ins Lager geschickt worden", seufzt Jerofejew, "es war reines Glück, dass meine Kindheit nicht im Waisenhaus der Kinder der Volksfeinde endete, sondern in Paris".
Der Tod zweier Väter
Nach Stalins Tod avancierte der Übersetzer Jerofejew zum hochrangigen Diplomaten in Paris und Wien. Sein Sohn Wiktor wuchs im Ausland auf und erfuhr somit eine ganz andere Perspektive auf seine Heimat. "Ich wurde nie ein Sowjet", erklärt Jerofejew und zieht gedankenverloren an seiner Zigarette. Sehr früh erkannte er die schrecklichen Dinge, die in der Sowjetunion vor sich gingen. Der junge Jerofejew begann, Stalin zu hassen. 1979 startete er seine Rebellion, die im größten Skandal der sowjetischen Literaturgeschichte endete: Der Literaturalmanach "Metropol", den er im Eigenverlag mit herausgab, gab systemkritischen Schriftstellern aus dem Untergrund ein Forum. Der junge Jerofejew wurde daraufhin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, was seinen literarischen Tod bedeutete. Der Vater verlor seinen hohen Posten bei der UNESCO in Wien.
Mit seiner Autobiografie rebellierte der Sohn über 20 Jahre später ein zweites Mal, indem er seine Kindheit als stalinistisches Paradies inszenierte. Jerofejew entlarvte dabei seinen Vater als "guten Stalin" - als Inbegriff des russischen Nationalcharakters, der sich bedingungslos einer Vaterfigur unterordne und geduldig auf die Strafe für seine Unterordnung warte. "Wir sind im Grunde eine archaische Gesellschaft, die Macht in ihrer vollen Blüte ausleben kann, weil sich keiner auflehnt", glaubt er.
Deswegen provoziert Jerofejew gern. Er sieht sich in der Tradition der 68er Generation, die gegen ihre Väter und die Autoritäten in den Kampf zog. Das sei auch der Grund dafür, so der Schriftsteller, dass sein Buch in Deutschland so erfolgreich sei. In Russland hingegen habe man die Provokation des Titels nicht verstanden, seufzt er. "Die Menschen standen vor den Buchläden Schlange", regt er sich auf: "Doch das waren alles Kommunisten, die tatsächlich gehofft haben, ein Buch über den guten Stalin in die Finger zu bekommen." So werde Stalin niemals sterben, weil ihn die alten Geister am Leben halten.
Vor dem staatlichen Stalin-Museum in Gori
Alexander Klimchuk
Stalin ist tot - es lebe Stalin
Mehr als Hälfte der russischen Bevölkerung glaubt heute immer noch an Stalin als großen Führer. Er strahlt als das Symbol der Großmacht und wird als Gründer des starken Staates politisch instrumentalisiert. Wladimir Putin habe alles getan, um Stalin wieder ins rechte Licht zu rücken, sagt Jerofejew: "Er benutzt die Geschichte, um seine autokratische Herrschaft zu rechtfertigen."
Jerofejew spielt damit auf die neuen Schulbücher für den russischen Geschichtsunterricht an, aus welchen die Lager, der Terror der 30er Jahre, die Hungersnot in der Ukraine und in Kasachstan ausradiert wurden. Stattdessen wird Stalin darin als der "fähigste Führer der Sowjetunion" gefeiert. In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, eröffnete ein privater Stifter vor zwei Jahren ein Stalin-Museum, das den Generalissimus als Helden des Zweiten Weltkriegs verherrlicht. Und in der südsibirischen Stadt Barnaul steht der "Stählerne" nun wieder in Stein gemeißelt, mit Pfeife in der Hand, auf dem "Boulevard der Verteidiger des Vaterlandes".
Die russische Historikerin der Menschenrechtsorganisation "Memorial", Irina Schtscherbakowa, findet diese Entwicklung höchst alarmierend. Sie verweist auf die Umfragen des unabhängigen Meinungsinstituts "Lewada" vom Sommer 2006. Damals lag Stalin auf Platz drei der erfolgreichsten Politiker, gleich nach Putin und Breschnew. Der Kreml führe mit dieser neuen Geschichtspolitik in erster Linie einen Kampf um die jüngere Generation, sagt Schtscherbakowa. Besonders die vom Kreml gesteuerte Jugendbewegung "Naschi" feiere nun wieder den "ewigen Siegerstaat Russland", seufzt sie. "Die da oben haben Angst, dass die Geschichte von Stalins Terror die Jugendlichen zu Anti-Patrioten macht." Der Schriftsteller Jerofejew pflichtet ihr bei und erwähnt die Revolutionen in der Ukraine, in Georgien und Serbien: Um die Rebellion der Kinder gegen ihre stalinistischen Väter zu verhindern, müsse Stalin wieder als "guter Vater" inszeniert werden, gegen den man sich nicht aufzulehnen braucht.
Das vergessene Schicksal der Opfer
Für die 79-jährige Margarita Michailowa ist die heutige Zeit mit bösen Erinnerungen verknüpft. Als Opfer des stalinschen Terrors wird ihr Schicksal wie das von Millionen anderer Überlebender oder Kinder der Unterdrückten aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Eine solche Ignoranz habe auch damals in den 30er Jahren geherrscht, sagt sie. Als achtjähriges Mädchen musste sie erschrocken feststellen, dass die Nachbarwohnungen im großen Wohnkomplex am Moskau-Ufer plötzlich leer standen. "In diesem Herbst sind viele Menschen einfach verschwunden", erzählt sie leise - und keiner habe je nach ihnen gefragt. Michailowa weint, wenn sie sich daran erinnert, wie ihr Vater, ein großer Moskauer Bauherr, in der Hochphase der Säuberungen 1937 eines Tages nicht von der Arbeit nach Hause kam. Stattdessen drangen vier Männer in schwarzen Lederjacken in die Wohnung ein, rissen Bücher aus den Regalen und beschlagnahmen die auf Deutsch geschriebenen Tagebücher der Großmutter. Als Missgeburt eines Volksfeindes beschimpfen die Schergen vom Geheimdienst sie damals. "Sie haben meine Puppe gegen die Wand geworfen", schluchzt sie, "der Porzellankopf zersprang in Scherben".
Stalins Terror hat Michailowas Familie zerstört. Ihre Mutter starb kurz nach der Verhaftung des Vaters, sie selbst lebte fortan im Waisenhaus. Jahrelang hat sie sich an die Hoffnung geklammert, dass ihr Vater womöglich im Lager überlebt haben könnte. Deswegen, erzählt sie, habe sie bei Stalins Tod auch geweint. Doch nicht aus Trauer, sondern aus Hoffnung, dass der Vater nun frei kommen könnte. Doch er kam nicht. Die Erschießungslisten des Gefängnisses am südlichen Stadtrand von Moskau beweisen heute: Wassilij Michailow wurde dort zusammen mit weiteren Hunderttausenden erschossen und seine Leiche dann verbrannt. Die Asche haben die NKWD-Männer auf dem Friedhof zerstreut.
Wenn die gebrechliche Dame über den Geheimdienstler Putin spricht, dann blitzen ihre blauen, tränennassen Augen. "Als ich ihn zum ersten Mal im Fernsehen sah", sagt sie, "bekam ich furchtbare Angst - er hat denselben kalten Blick wie die Männer, die uns damals aus der Wohnung jagten."
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