Die Rückkehr einer Weltmacht
Europa versteht die neuen Russen nicht: Sie fahren im dicken Benz mit schwarz getönten Scheiben vor, unterwerfen Urlaubsorte wie Kitzbühl und Sankt Moritz mit frisch verdienten Millionen, kaufen sich in den europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS ein und wollen ein Stück Deutsche Telekom erwerben. War Russland nicht dieses arme und zerfallende Land im Osten, das finanziell am Tropf des Westens hing? Das war einmal. Alexander Rahr, einer der bekanntesten Russlandexperten und Autor der ersten deutschsprachigen Putin-Biografie, erklärt in seinem neuen Buch mit dem Titel "Russland gibt Gas", wie es zu dem beispiellosen Wiederaufstieg der tot geglaubten Weltmacht kommen konnte - und was das für den Westen bedeutet.Russland gibt Gas - Die Rückkehr einer Weltmacht, Hanser-VerlagDas neue Russland sei keine "Möchtegern-Großmacht, die nur am Energietropf hängt", schreibt Rahr, der in Berlin als Programmdirektor der einflussreichen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) arbeitet und zu den Organisatoren des Petersburger Dialogs zwischen Deutschland und Russland gehört. Die Welt habe es im 21. Jahrhundert mit einer starken und stabilen Energiemacht zu tun, die sich nicht weiter zum billigen "Rohstoffanhängsel" Europas und der USA degradieren lassen werde. "Modernisierer" Putin habe die Einnahmen aus dem Ressourcenexport in die Staatskasse gelenkt - und mit Petrodollars nicht nur Schulden zurückgezahlt, sondern in Schlüsselindustrien wie Energie-, Transport- und Rüstungswesen investiert. Mit diesen "Triebwerken" komme dann auch die Gesamtwirtschaft immer mehr in Fahrt und Russland werde stetig unabhängiger vom Öl- und Gasexport. Der russische Aufschwung, schreibt Rahr, sei also keineswegs ein vorübergehendes Phänomen, das nur den hohen Rohstoffpreisen geschuldet ist. Europa habe noch nicht verstanden, dass Russland als Energiegroßmacht dauerhaft eine Rolle auf der Bühne der Weltpolitik spielen werde, moniert der Autor und lobt gleichzeitig Ex-Kanzler Gerhard Schröder als "einen der wenigen westlichen Politiker, der die historische Dimension der Annäherung an Russland begreift". Nach Ansicht des Autors werden die Beziehungen zwischen Staaten in Zukunft mehr den Charakter einer "Energieaußenpolitik" annehmen. Im weltweiten Kampf um Energieressourcen nehme Russland, auf dessen Territorium die weltweit größten Erdgas- und riesige Ölreserven lagern, eine Schlüsselstellung ein. Doch die Europäische Union habe die Chance einer Partnerschaft mit Russland vertan, denn Brüssel spiele sich zu sehr als Lehrmeister in Sachen Demokratie und Marktwirtschaft auf und nehme Moskau zu wenig als ebenbürtigen Partner wahr. Dabei böten sich der neuen Großmacht Russland auch Alternativen zur europäisch-russischen Kooperation: Rahr erstellt Szenarien, wonach die Ostmacht künftig mit China, Indien oder gar dem Iran stärker Geschäfte machen könnte - Szenarien, die für westliche Strategen wahre Horrorvorstellungen sein müssten. Welche Rolle spielt Russland für Europa? Die des Gegners, dessen autoritäres Regime den Westen mit permanentem Säbelrasseln provoziert? Die des Konkurrenten, dessen eigene Unternehmen den westeuropäischen Markt aufrollen? Oder die eines Partners, mit dem Europa eine partnerschaftliche Beziehung eingehen sollte? Alexander Rahr zeichnet diese Deutungsmodelle Kapitel für Kapitel nach - und schließt mit einem klaren Plädoyer für den letzteren, den pragmatischen Weg im Umgang mit Russland.Rahr hat Recht: An Russland kommt Europa schon wegen des beneidenswerten Ressourcenreichtums nicht vorbei. Wenn man von einer Energie-Abhängigkeit spricht, dann meint dies gegenseitige Abhängigkeit: Europa braucht die russischen Kraftstoffe. Und Russland ist auf die EU angewiesen, auf die fast alle Pipelines gerichtet sind und deren Mitgliedsstaaten die größten Abnehmer von Öl und Gas sind - zumindest noch. Denn Moskau kann sein Gas mittelfristig auch an neue Verbündete verkaufen wie das energiehungrige China. Europa bleibt dagegen auf Russland als Tankstelle angewiesen. Rahr hat ebenfalls Recht, wenn er den zuweilen arroganten Umgang der Westler mit Russland kritisiert. Der Tonfall, mit dem Vertreter europäischer Staaten demokratische Defizite kritisieren, verärgert Moskau und belastet die Beziehungen. Doch hier neigt der Autor dazu, die Realität des autoritären Russlands beinahe zu rechtfertigen. Mit imaginären Spiegelstrichen hakt er ab, dass Putins Demokratie eine Fassade ist, dass Menschenrechte verletzt werden, dass Bürokraten die Wirtschaft lenken und dass das Parlament nach der Pfeife des Präsidenten tanzt. Einige Seiten später listet er Putins Gegenargumente auf: Auch die deutsche Regierung habe Demos beim G8-Gipfel verboten, auch in Frankreich gebe es Wirtschaftsprotektionismus, auch Japan werde seit Jahrzehnten von einer Partei regiert. Kritik an der innenpolitischen Entwicklung kontert Rahr gezielt mit Vergleichen aus verschiedenen westlichen Ländern aus - genau so wie es Präsident Wladimir Putin in politischen Auseinandersetzungen zu tun pflegt. Für eine politische Analyse ist das zu platt. Dass Alexander Rahr in der russischen Politik gut verdrahtet ist, zeigt das üppige Detailwissen über die politischen Akteure und deren Beziehungen zueinander. Diese Kenntnisse reichen zwar nicht zu einem lückenlosen Einblick ins Innerste der Kremlstrukturen, doch daran ist bislang noch jeder "Kremologe" gescheitert. Trotzdem hat das insgesamt sehr lesenswerte Buch Schwachstellen - gerade, wenn es um die Innenpolitik geht. Normativ hätte ein wenig mehr Distanz zur nicht-demokratischen Wirklichkeit nicht geschadet. Inhaltlich fehlt eine substanzielle Auseinandersetzung mit der Frage, warum Russland nach acht Jahren Putin'scher Reformen, die doch in wirtschaftlicher Hinsicht so erfolgreich anmuten, das liberal-demokratische Wertesystem verlassen hat. Rahr rechtfertigt diesen Weg. Aber er bleibt eine nachvollziehbare Erklärung des autoritären Schwenks schuldig. Deshalb wird der Leser dem großen Land im Osten zum Schluss der Lektüre mehr Respekt zollen, das autoritäre Regime aber weiterhin mulmig betrachten und Russland am Ende immer noch nicht verstehen. Alexander Rahr: Russland gibt Gas - Die Rückkehr einer Weltmacht. Hanser, Müchen 2008. 280 Seiten. ISBN: 978-3-446-41395-5, Preis: 19,90 EuroENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87