Russland

Tschetschenien-Film für Oscar nominiert

Das klapprige Fahrrad des tschetschenischen Jungen ächzt, als er kräftiger in die Pedale tritt. "Mutter sprich russisch, sprich russisch", schreit er der Frau entgegen, die auf einem blühenden Feld steht. Sie murmelt ein tschetschenisches Volkslied. Die Anfangsszene ist in Schwarz-Weiß gedreht, es gibt keine Graustufen, nur harte Schnitte zwischen den Welten. Umso mehr schockt im nächsten Bild das Rot des Blutes, das aus der Stirn der Frau rinnt. Sie lehnt tot an der Wand ihres zerbombten Wohnzimmers, hat zwei Kugeln im Kopf. Daneben liegt ihr Mann, ein russischer Offizier, mit einem Messer im Rücken. Dann wechselt der Film Ort und Zeit: Jahre später wird der junge Tschetschene in Moskau angeklagt, diesen - seinen Stiefvater - umgebracht zu haben. Heftig knallt die Tür zur Gefängniszelle hinter ihm zu, es ist kalt in dem dunklen Loch. Der Junge steht mit dem Rücken zu Wand, sein Schicksal scheint so gut wie besiegelt. Denn auch in der Turnhalle einer Schule fällt die Tür ins Schloss und wird verriegelt. Darin versammeln sich die zwölf Geschworenen, die einstimmig über Schuld und Unschuld des mutmaßlichen Mörders entscheiden sollen. "Wird es lange dauern?", fragt der eine mit Blick auf die Uhr. "Ich denke nicht. Wenn wir alle dafür sind, können wir schnell nach Hause gehen", entgegnet ihm sein Gegenüber lapidar. Sie heben die Hände zur Abstimmung: Nur einer zögert. Auch wenn der russische Film "12" auf den ersten Blick ein Remake des amerikanischen Klassikers "Die zwölf Geschworenen" zu sein scheint, ist er doch ein modernes, vor allem aber russisches Meisterwerk. Das Drama geht mit der russischen Gesellschaft ins Gericht. "Der Film handelt nicht vom Krieg in Tschetschenien, sondern von den Auswirkungen auf die Gesellschaft", erklärt der Regisseur und Drehbuchautor Nikita Michalkow auf einer Pressekonferenz in Moskau. Er will die Vorurteile gegenüber den Tschetschenen hinterfragen, sagt er und erhebt den Zeigefinger: "Wenn die Leute anfangen nachzudenken, dann habe ich alles erreicht, was ich mit dem Film bezwecken wollte."Das ist dem russischen Star-Regisseur Michalkow mit seinem jüngsten Film gelungen. Mit Hilfe scharfer Schnitte sowie krassen Gefühls- und Perspektivwechseln reißt er den Zuschauer aus jeglicher Voreingenommenheit heraus. Während elf der Geschworenen bereit sind, den Tschetschenen vorschnell zu verurteilen, um dann wieder ihrem geschäftigen Leben nachzugehen, bibbert der Junge von Albträumen gepeinigt im dunklen Loch. Seine Erinnerungen führen das Publikum in den Bombenhagel des Krieges. Leichen liegen im Schutt, es regnet auf eine zerstörte Welt. Doch der Film bleibt unpolitisch. Michalkow will nicht den Krieg zeigen, wie er sagt, sondern die menschlichen Tragödien. So führt er den Betrachter tief in die Vergangenheiten der Geschworenen. Dabei entpuppen sich die Figuren selbst als stigmatisierte Außenseiter der russischen Gesellschaft: der ehemalige Alkoholiker, der als Versager gilt, der Jude, dessen Vater in Lagerhaft saß, der Chirurg aus dem Kaukasus, dem vorgeworfen wird, seine Zulassung erkauft zu haben - sie alle erzählen ihre Lebensgeschichte und einer nach dem anderen revidiert dabei seine vorschnelle Entscheidung. Nur einer, der Ombudsmann, der von Michalkow selbst gespielt wird, bleibt bis zuletzt skeptisch. "Was ist, wenn wir den Jungen freilassen und er wird dann von den richtigen Mördern umgebracht?", fragt er in die Runde, als wolle er den Tschetschenen vor der Außenwelt schützen. Der Alte entpuppt sich schließlich als Geheimdienstmann, der dennoch als Gutmensch davonkommt. Selbstgerecht bietet er sich dem Jungen als Stiefopa an und verspricht ihm, die Mörder zu finden. Mit dieser letzten Eitelkeit zerstört Michalkow, was ihm zuvor in dem 150-minütigen Film gelungen ist: die Selbstkritik an der Haltung gegenüber den Tschetschenen und all den anderen, auf die in Russland so gerne mit dem Finger gezeigt wird. Doch auch wenn "der Impuls für den Film aus den USA kam", wie Michalkow zugibt, so zählt diese Schlussszene womöglich zu denjenigen, die "der westliche Zuschauer nicht verstehen kann, weil er nicht so mit dem realen russischen Leben vertraut ist."  Dennoch dankt der mehrfach preisgekrönte Regisseur den Kollegen in den USA, dass sie "12" in der Kategorie "Bester Fremdsprachiger Film" für den Oscar nominiert haben. Zuletzt gewann Michalkow mit seinem Werk "Die Sonne, die uns täuscht" im Jahr 1995 einen Oscar. Derzeit produziert er die Fortsetzung dieses post-sowjetischen Klassikers über die Säuberungen der Stalin-Zeit. Der Regisseur und Schauspieler, der den Spitznamen "der russische Steven Spielberg" trägt, stammt aus einer bekannten Künstlerfamilie. Er ist der Sohn des kommunistischen Dichters Sergej Michalkow, der die sowjetische Nationalhymne schrieb und gute Beziehungen zur kommunistischen Partei pflegte. Und wie sein Vater, so sucht auch der heute 68-jährige Sohn die Nähe zu den Mächtigen im Kreml. Als Präsident des Moskauer Filmfestivals schrieb er kurz vor den russischen Parlamentswahlen im Dezember einen offenen Brief an Putin und bat ihn inständig, an der Macht zu bleiben. Auch für die Produktion eines Pro-Putin-Werbespots sowie eines Geburtstags-Clips für den noch amtierenden Präsidenten war er sich nicht zu schade. So ist es auch kein Wunder, dass der frühere KGB-Mann Putin in seinem Krimi-Drama "12" trotz der Tschetschenien-Thematik dennoch gut wegkommt.
 
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