Russland

ZWISCHEN IKONE UND ALLAH

Islamisch-orthodoxe Ehen in der Region TatarstanIn Russland ist fast jeder zweite Bewohner ein Meister im Erzählen von Anekdoten. Darin geht es selten um klapprige Autos, Mitbürger mit lustigen Akzenten oder irgendwelche Minderheiten, die in deutschen Witzen verspottet werden. Russische Anekdoten greifen gesellschaftliche Themen auf. Auch die überwiegend islamischen Bewohner der russischen Republik Tatarstan nehmen sich und ihre Gesellschaft gern selbst aufs Korn. So zum Beispiel: "Timur, warum bist du immer noch nicht verheiratet", fragt eine tatarische Mutter ihren Sohn, "schau doch mal in der Nachbarschaft, dort leben so viele schöne Mädchen. Wie findest du Nuria?" - "Gefällt mir nicht", mault Timur. "Und Gulja?" - "Auch nicht schön." - "Wer gefällt dir denn überhaupt?" - "Sergej" - Entrüstet antwortet die Mutter: "Aber er ist doch Russe!" Natascha erzählt den Witz während eines Rundgangs durch Kasan, die Hauptstadt der Republik Tatarstan und das Zentrum des Islam in Russland. Die Historikerin ist in einer tatarischen Familie aufgewachsen, aber mit einem Russen verheiratet. Das ist hier nichts Außergewöhnliches. Zum Hintergrund des Witzes sagt sie, dass tatarische Mütter der Überzeugung seien, in ihren Familien gehe es sauberer zu als bei den Russen. "Und oft haben sie damit auch Recht", meint die Russin. Über die Grenzen des Humors wachsen Differenzen zwischen Muslimen und orthodoxen Christen in Russlands autonomer Republik Tatarstan selten hinaus. Die islamisch geprägten Tataren, die sich mit der Goldenen Horde im 13. Jahrhundert am Mittellauf der Wolga niedergelassen haben, sind mit einem Bevölkerungsanteil von 52 Prozent die so genannte Titularnation. Russen sind ethnisch und konfessionell in der Minderheit, wiewohl ihre Sprache das gesellschaftliche Leben dominiert. Das Zusammenleben klappt weitgehend ohne Konflikte. Oft wachsen tatarische und russische Lebenswelten sogar eng zusammen: 27 Prozent der Ehen in der Republik Tatarstan werden zwischen Russen und Tataren geschlossen. Als der Tatare Irek Walejew vor zwölf Jahren heiraten wollte, war seine Mutter anfangs strikt dagegen. "Du bist erst 22, das hat noch Zeit", sagte sie. Auf die Straße solle er gehen, sich noch einmal richtig austoben, bevor der Ernst des Familienlebens beginne. Dass der angehende Jurist in Begriff war, eine Russin zu heiraten, war für sie hingegen kein Problem. Walejews Frau Natalja glaubt an Gott. Sie hat Jesuskreuze in der Wohnung aufgehängt und engagiert sich in der Kirchengemeinde. Wenn Irek in die Moschee geht, besucht sie eine Andacht der orthodoxen Kirche. Meistens nimmt sie dazu den siebenjährigen Timur mit, die Kinder werden christlich erzogen. Neulich wollte Timur mal mit Papa in die Moschee gehen. "Er hat viele Fragen gestellt", erzählt Irek Walejew, "er will einfach vergleichen, was er dort sieht."


Erst vor wenigen Jahren wurde die neue Moschee im Kasaner Kreml eröffnet.
Florian WillershausenDie Walejews sind eine ganz normale russische Familie. Sie leben in einer alten Sowjetwohnung in der Kasaner Gorki-Siedlung und bauen sich gerade eine kleine Datscha am Rande der Stadt. Im Wohnzimmer liegen bunte Bauklötze auf dem Teppichboden, das Kinderzimmer ist ein Zoo der Plüschtiere. Vater Irek arbeitet bei der Staatsanwaltschaft, Mutter Natalja studiert BWL im Fernstudium und kümmert sich um die zweijährige Diana. Im Sommer fahren sie ans Schwarze Meer, im Winter geht's zum Skifahren.
 
Doch daneben bringt Walejew seinen Kindern die tatarische Sprache bei, schickt seinen Sohn auf die tatarische Schule, demnächst kommt die Kleine in den tatarischen Kindergarten. "Ich will, dass sie sich mit ihrer Oma unterhalten können", antwortet er auf die Frage, warum er so viel Wert auf eine tatarische Erziehung legt. Seine Antwort ist so banal, weil das Thema für ihn selbstverständlich ist. Außerhalb Tatarstans ist ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Christen alles andere als selbstverständlich. In den südrussischen Regionen Baschkortostan, Inguschetien und Tschetschenien sterben fast jeden Tag Menschen, weil der politische Konflikt zwischen russischem Staat und islamisch geprägter Republik noch immer brodelt. Die meisten Russen bekommen davon nichts mit, weil die Medien zu den Konflikten weitgehend schweigen. Die russischen Kaukasus-Republiken, dem Status nach ebenso autonom wie das gleichfalls islamische Tatarstan, fordern seit Jahren Unabhängigkeit, die ihnen Moskau nicht geben will. Russlands Armee hat zweimal Krieg geführt, bis heute sind Tausende schwer bewaffneter Soldaten vor Ort. Sie sind gleichfalls Ziele und Provokateure von Gewalttaten, die im Kaukasus kein Ende finden.Nur einmal, zu Beginn der 90er Jahre, haben in Kasan tatarische Nationalisten demonstriert, von denen einige die Loslösung von Russland forderten. Das war kurz nach einer Rede des damaligen Oppositionschefs Boris Jelzin, der in Kasan ins Mikrofon rief: "Nehmt euch so viel Autonomie wie ihr schlucken könnt." Die Sowjetunion und seinen Kontrahenten Michail Gorbatschow hatte er damit schwächen wollen - und in der Tat setzten in ganz Russland Unabhängigkeitsbewegungen ein, die in einigen Regionen nicht zu bändigen sein sollten. Rafail Chakimow war einer der Wortführer der tatarischen Nationalbewegung. Der Sohn eines tatarischen Nationaldichters ging auf die Straße, nahm an Demonstrationen teil und hielt Reden. Doch ihm war klar, dass Tatarstan als autonome Republik ohne Russland nicht würde bestehen können. Darum handelten er und andere Polit-Strategen mit der neuen russischen Führung um Boris Jelzin allerlei politische Extrawürste aus, auf die sich die pragmatische Zusammenarbeit zwischen Russen und Tataren in Zukunft stützen sollte: geringere Steuerabgaben nach Moskau, höhere Zuschüsse für Infrastrukturprojekte, eine Republik mit Parlament und eigenem Präsidenten.


Das Denkmal des tatarischen Nationaldichters Musa Dschalil vor dem Kreml in Kasan.
Florian WillershausenHeute sitzt Chakimow im Kasaner Kreml, in einem riesigen Büro mit vier Meter hohen Decken, unter denen er mit seiner mittelgroßen Körperstatur ziemlich klein aussieht. Tatarstans Präsident hat ihn schon vor Jahren zu einem seiner obersten politischen Berater ernannt. Wenn Chakimow über Politik sinniert, klingt er wie einer der Berater von Staatspräsident Wladimir Putin, die dessen autoritären Kurs mit der in Russland beliebten Worthülse "Stabilität" verteidigen. Doch lieber schreibt Chakimow Aufsätze und erklärt der Welt in vielen Sprachen, dass es auch moderate Formen des Islam gibt. So wie den "Euroislam", der seiner Meinung nach in Tatarstan vorherrscht. "Tataren und Russen leben in zwei völlig unterschiedlichen Kulturen", sagt er, "aber beide Kulturen sind liberal und tolerant." Das sei der Schlüssel des friedlichen Zusammenlebens. In Sachen konfessionsübergreifende Toleranz, sagt Chakimow, verhalte sich der moderne Islam zur Orthodoxie ähnlich wie der Protestantismus zur katholischen Kirche. In Tatarstan hat es nie einen regen Kontakt mit anderen Strömungen des Islam gegeben. Solche Beziehungen wurden während der Zarenzeit und erst recht in der Sowjetunion verhindert. Rafik Muchametschin war es als Kind gewohnt, auf der Straße kein Tatarisch sprechen zu dürfen. Der islamische Glauben konnte nur im familiären Rahmen gelebt werden. Heute ist ein jeder Tatare frei, seine Religion zu praktizieren. Doch in der islamischen Welt ist Tatarstan von anderen Strömungen isoliert. Die Tataren bilden ihre geistlichen und weltlichen Eliten selbst aus, fernab von Einflüssen aus dem orientalischen Kulturraum. Zum Beispiel an der Russischen Islamischen Universität, die Muchametschin heute leitet. "Wenn ein Russe nicht akzeptiert, dass sein Vorgesetzter ein Tatare ist, wird er in Tatarstan keine Arbeit finden", sagt der Politikwissenschaftler. Allerdings werde die Gesellschaft auch in dieser Republik von der russischen Sprache zusammengehalten - nicht aus kulturellen, sondern aus pragmatischen Gründen. "Meine Kinder sprechen besser Englisch als Tatarisch", seufzt der Hochschulrektor und fügt das Wort "leider" hinzu. Tatarstan mag ein besonders toleranter Fleck in Russland sein. Frei von Konflikten ist die autonome Republik aber nicht. Wie in anderen Teilen Russlands gab und gibt es auch dort Angriffe auf Nichtrussen. So wurde vor ein paar Monaten ein Usbeke in der Metro umgebracht. Ein Afrikaner wurde von Russen verprügelt. Dumpfe Sprüche wie "Russland den Russen" werden auch hier an Wände geschmiert. Von einem Neonazi-Problem, mit dem viele russische Großstädte konfrontiert werden, ist auch die Stadt Kasan betroffen. Und ebenso wenig wie die Moskauer oder Sankt Petersburger stellt sich die politische Elite von Kasan diesem Problem entgegen. Konflikte zwischen Tataren und Russen manifestieren sich aber nur auf der familiären Ebene. Das Frauenbild von Natalja Gerasimowa prallt manchmal mit dem ihrer tatarisch-islamischen Schwiegermutter zusammen. "Tataren sind sehr patriarchalisch", sagt die 36-Jährige, "das ist tief in den Köpfen drin." Eine Schwiegertochter, die sich neben dem Haushalt der wissenschaftlichen Arbeit widme, entspreche nicht dem Idealbild familiärer Rollenverteilung. Auf dieser privaten Ebene, sagt die promovierte Historikerin, gebe es durchaus Reibereien zwischen den Religionen - über die spezifischen Wertemodelle, die die Religionen vermitteln. "Nach außen bekommt von solchen Problemen niemand etwas mit", sagt sie, "Religion ist in Tatarstan eine rein private Angelegenheit."ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87


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