"Es ist deprimierend, keine Kinos zu haben" / Interview mit Cristian Mungiu
Cannes-Preisträger Cristian Mungius preisgekrönter Film "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" läuft in den deutschen Kinos an. Der Film erzählt die Geschichte eines illegalen Abtreibungsdramas im rumänischen Ceausescu-Regime. Die Produktion sorgte bereits für Schlagzeilen. Die Vatikan-Zeitung nannte ihn "widerlich", Abtreibungsgegner in Frankreich wollten verhindern, dass er im hiesigen Schulunterricht gezeigt wird - erfolglos. Im September erklärte die Internationale Filmkritikervereinigung FIPRESCI den Streifen zum "besten Film des Jahres". Im kommenden Jahr, so wünscht es sich Rumänien, wird Mungiu doch hoffentlich auch den Oscar holen.
ostpol: Herr Mungiu, wie lebt es sich mit Erfolg?
Mungiu: Ich weiß ehrlich nicht, ob ich den Erfolg aus Cannes bereits verarbeitet habe. Ich bin immer noch überrascht über die Aufmerksamkeit, mit der ich hier und da in der Welt empfangen werde. Sie zeigt mir, welches Prestige, welche Wichtigkeit die Goldene Palme hat. Ich verhalte mich genauso wie vorher, aber bei den anderen stelle ich eine Art von Höflichkeit fest, die auf jeden Fall mit diesem Preis zusammenhängt.
Ihr Film ist im Ausland euphorisch gefeiert worden. Filmkritiker aus dem Westen schreiben, dass der rumänische Film im Augenblick im osteuropäischen Vergleich der lebendigste ist. Stimmt das?
Mungiu: Es fällt mir schwer, einen osteuropäischen Vergleich zu ziehen, ich kenne zu wenige osteuropäische Filme, auch weil ich Filmemacher und nicht Filmkritiker bin. Doch der rumänische Film ist derzeit äußerst lebendiges Kino. Es gibt uns als eine neue Generation von Filmemachern, die mit dem Kommunismus nichts mehr am Hut hat, auch keine komplizierten, metaphorischen Filme produziert, sondern leichtfüßige Geschichten erzählt, die keinerlei Revanchismus in sich tragen.
In Ihrem Heimatland Rumänien gab es längst Reaktionen auf Ihren Film, und nicht nur positive. So hieß es, Sie hätten nur durch Beziehungen gewonnen. Ein Taxifahrer sagte Ihnen, die Cannes-Jury habe eine rein politische Entscheidung getroffen. Warum sind Ihre Landsleute so misstrauisch Ihrem Erfolg gegenüber?
Mungiu: Rumänen sind Klatschtanten, sie haben immer etwas zu kommentieren, wissen es immer besser. Hinter jedem Erfolg vermuten sie eine Verschwörung. Ich weiß nicht, ob das das Resultat einer jahrzehntelang gelebten Verschwörungstheorie aus kommunistischen Zeiten ist oder nur unsere Art. Andererseits amüsieren mich solcherlei Kommentare, wichtig nehme ich sie nicht.
Und hat die Cannes-Jury eine politische Entscheidung getroffen?
Mungiu: Lassen Sie uns ernsthaft bleiben: Ich bin ein gutes Beispiel dafür, dass man Erfolg in dieser Welt haben kann, ohne Beziehungen zu besitzen, ohne einer bestimmten Kaste oder einer ethnischen Gruppe anzugehören. Man kann ein Außenseiter sein, doch wenn man zum passenden Zeitpunkt das Richtige macht, ist alles möglich. Ich bin auch ein nützliches Beispiel für jene, die zu Hause bleiben und sich vorstellen, dass sie keinen Erfolg haben werden, weil angeblich jemand einen Komplott gegen sie schmiedet.
Ihr Film ist ein beklemmendes Porträt der Dämmerjahre der Ceausescu-Diktatur, die Abtreibung mit Haftstrafen ahndete. Warum blicken Sie in die Vergangenheit zurück?
Mungiu: Für mich ist es ein Film auch über die Gegenwart. Ich zeige, wie wir einst gelebt haben und warum wir heute so sind wie wir sind. Bis 1989 waren Abtreibungen in Rumänien verboten. Unmittelbar nach 1990 wurden sie erlaubt, ohne dass sich das Wissen über Verhütungsmittel vermehrt hatte. 1990 wurden in Rumänien knapp eine Million Abtreibungen registriert, heute gibt es rund 150.000 pro Jahr. Warum? Weil die Leute nicht verstehen, dass Abtreibung keine Verhütungsmethode ist.
Noch heute ist Abtreibung ein umstrittenes Thema. Haben Sie nun einen Film Pro oder Contra Abtreibung gemacht?
Mungiu: Für mich ist es weder ein Film über Pro und Contra zur Abtreibung noch über den Kommunismus, sondern eine Geschichte über Menschen, die über sich selbst lernen, weil sie bestimmte Dinge erleben. Ich glaube nicht an eine Art von Weisheit, die am Ende eines Films oft transportiert werden soll. Ich will keine Ratschläge geben. Aber ich wünsche mir, dass die Zuschauer mit einer Frage aus dem Film gehen, dass sie prüfen, was sie selbst darüber denken, was sie eben gesehen haben. Danach sollen sie ihre eigenen Entscheidungen treffen.
In einem Interview sagten Sie, Sie wollen Filme machen, die provozieren. Das ist ihn gelungen, man hat das an den Reaktionen in Italien gesehen. Die Zeitung des Vatikans "L'Osservatore Romano" schrieb über Ihren Film, er sei "widerlich". Versteht der Vatikan nicht, wie repressiv das Ceausescu-Regime mit Abtreibungen umging?
Mungiu: Schade, dass man nicht bemerkt, dass der Vatikan und ich über ein- und dasselbe Thema sprechen, jedoch mit verschiedenen Mitteln: Der Vatikan vom religiösen Standpunkt aus, ich vom künstlerischen. Es herrscht Verwirrung, weil man glaubt, ein Film-Drama vermittle nicht einen dramatischen Filmstoff sondern eine dramatische Einstellung. Gleichzeitig hoffe ich immer noch, dass man irgendwann merkt, dass die Mittel der Kunst den Menschen eine bessere Bildung ermöglichen als eine Predigt.
Ist das rumänische Publikum nach vielen Jahren Abstinenz nicht mehr an Hollywoodstreifen interessiert als an einheimischen Filmen wie den Ihren?
Mungiu: Sicherlich interessieren sich die meisten Kinobesucher, übrigens in ganz Europa, mehr für Hollywoodproduktionen. Kein Wunder: Hollywood besitzt das perfekte Wissen, wie Filme beworben werden müssen. Mich aber interessieren die Zuschauer, die einen rumänischen Film sehen wollen. Egal, wie gut ein Film in Hollywood gemacht ist, er ist weder auf Rumänisch, noch erzählt er von den Dingen, die bei uns passieren. Die Leute wollen Geschichten über sich selbst hören, über Dinge, die ihnen nahe stehen. Für diese Leute müssen wir Filme machen, auch wenn sie nur wenige Zuschauer bringen. Wenn Filme aber die Seele ansprechen, werden sie nicht nur in Rumänien sondern auf der ganzen Welt verstanden.
In ganz Rumänien soll es nur noch 35 Kinos geben. In manchen ist der Ton erbärmlich, die Leinwand verschlissen. Rumänische Regisseure produzieren längst ausgezeichnete Filme, doch haben Sie in Ihrem Land kaum Räumlichkeiten, diese zu zeigen. Warum ist die rumänische Kinolandschaft nach der Wende so verkommen?
Mungiu: Vor 1989 ging man in Rumänien ins Kino, weil es keine andere Form von Unterhaltung gab. Es gab einen staatlichen Fernsehkanal, der täglich eine zweistündige Propaganda-Sendung ausstrahlte. Sollte man sich die etwa ansehen? Heute bekommt man für den Preis einer Kinokarte zig Sender per Kabel ins Haus. Wir haben nach der Wende förmlich einen Unterhaltungsschock erlitten. Und je mehr Unterhaltungsoptionen es gibt, umso weniger Publikum bleibt fürs Kino. Andererseits wurden nach der Wende in Rumänien keine interessanten Filme gedreht. Damit verfielen die Kinosäle, das Publikum blieb aus, ebenso der von den Produzenten erwartete Profit. Das ist die eine Seite des Verfalls. Es gibt auch eine andere: Man hat in der Politik auf diesen Verfall hin gearbeitet, denn die Kinos sind die letzten öffentlichen Räume in den Innenstädten, die noch nicht verkauft worden sind. Man wartet auf Immobilienhaie, die diese Kinos kaufen, um sie als profitable Bürogebäude auszubauen, anstatt sie mühsam wieder zu Kinos zu beleben - denn diese Variante ist natürlich viel unrentabler.
Der Filmemacher Emir Kusturica will seinen neuen Film "Zavet" in Serbien zwei Jahre lang nur in einem einzigen Dorfkino zeigen, um damit auf den katastrophalen Zustand der Lichtspielhäuser des Landes aufmerksam zu machen. Was halten Sie von der Idee?
Mungiu: Wenn ich endlich so viele Filme gedreht habe wie Kusturica, dann werde ich sicher auch eine bessere Position als jetzt haben. Vielleicht kann ich es mir dann leisten, meinen Film nur auf meine Hauswand zu projizieren. Aber bis dahin muss ich ihn zum Zuschauer bringen. Ich bin mit meinem Film durch Rumänien gezogen, habe ihn an Orten gezeigt, in denen die Kinos längst geschlossen sind, ich wollte bei den Leuten wieder die Sehnsucht nach einem Kino wecken. Es ist schon deprimierend für einen Filmemacher, egal ob mit oder ohne Goldene Palme, keine Kinos und keine Zuschauer zu haben. Das ist, als ob man seine Filme nur noch für den eigenen Genuss macht. Ich produziere meine Filme für ein Publikum.
Was wäre aus Ihrem Film ohne die Goldene Palme aus Cannes-Preis geworden?
Mungiu: Der Film ist vor der Auszeichnung in alle wichtigen Regionen verkauft worden. Er hätte also genügend Zuschauer erreicht. Aber natürlich hätten das rumänische Kino und auch ich weniger im Rampenlicht gestanden.
Sie haben immer wieder betont, dass Ihnen der Cannes-Preis wichtiger sei als ein Oscar. Die Goldene Palme bestätige Sie als Filmemacher und bedeute Respekt für Ihre Profession und die Institution "Kino". Nun hat Rumänien Ihren Film für den Oscar vorgeschlagen. Ist es Ihnen das gar nicht so recht?
Mungiu: Ich protestiere nicht gegen die Oscar-Nominierung, doch diese Entscheidung habe nicht ich getroffen, sondern das waren rumänische Kulturpolitiker. Mit der Goldenen Palme von Cannes ehrt man in Europa den Autorenfilm, es ist die höchste Auszeichnung dafür. Der Oscar hingegen ist eine wunderbare Auszeichnung für jemanden, der im US-amerikanischen Filmsystem arbeitet. Ich finde, man kann für einen bestimmten Stil von Filmen und Kino nicht erwarten, von einem anderen System ausgezeichnet zu werden.
Sie rechnen also nicht mit einem Oscar?
Mungiu: Natürlich wäre er eine große Überraschung für mich. Doch diese große Überraschung ist für einen Film bestimmt, der stärker als meiner eine konventionelle und klassische US-amerikanische Erzählstruktur mit einem europäischen Filmstoff verbindet.