Phönix an der Memel
200 Jahre Tilsiter Friede und 100 Jahre Luisenbrücke - eine Stadt taucht aus den Tiefen der Geschichte aufVon Andreas Metz, amadmetz@gmx.deSowjetsk/Tilsit (n-ost) - Die Stadt heißt heute Sowjetsk und befindet sich am Ufer des Flusses Njemen im Kaliningrader Gebiet, einer Enklave an der Ostsee, die heute zu Russland gehört. Doch hin und wieder taucht der alte Name Tilsit aus der Versenkung auf, wenn im Kühlregal eine Packung Tilsiter Käse angeboten wird, oder wenn - wie dieser Tage - der 200. Jahrestag des Tilsiter Friedens zu feiern ist."Tilsit konnte von mir aus am Mississippi liegen oder auf dem Mars", erinnert sich die Journalistin Ulla Lachauer an ihre westdeutsche Nachkriegsjugend, in der alles ausgeblendet wurde, was jenseits der Oder lag. Im Revolutionsjahr 1989 hat sie sich dann doch aufgemacht. Nicht zum Mars, aber an die Memel, wo sie vom litauischen Ufer aus auf die damals für Deutsche noch unpassierbare Königin-Luise-Brücke an der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad blickte. Dahinter kauerte eine Stadt mit einem neuen Panorama, mit neuen Menschen und einem neuen Namen. "Ich fing von Null an, anfangs war es wie buchstabieren lernen", schreibt Lachauer in ihrem Buch "Die Brücke von Tilsit."Die Geschichte der verschwundenen Stadt Tilsit beginnt mit den Rittern des Deutschen Ordens, die auf Bitten des polnischen Königs das heidnische Volk der Pruzzen missionierten und im 14. Jahrhundert einen Stützpunkt am Memelufer gründeten. Viel weiter sind sie danach nicht mehr gekommen. Tilsit wurde zur "nordöstlichste Stadt Deutschlands" und blieb in der Wahrnehmung der preußischen Metropolen Berlin und Königsberg eine Siedlung umstreunt von Wölfen und Elchen, bedroht von der Wildnis des Ostens.Tilsiter FriedenDoch einmal war Tilsit der Nabel der Welt. Und dieses Ereignis jährt sich nun zum 200. Mal: Zwischen dem 25. Juni und 9. Juli 1807 traf hier Napoleon Bonaparte mit dem russischen Zaren Alexander I. zusammen, um eine Friedensordnung für Europa auszuhandeln. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war bei den Treffen, die zum Teil in einem auf der Memel schwimmenden Zeltfloß stattfanden, eher Zaungast.
Preußen war 1806 gegen Napoleon in den Krieg gezogen und musste am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage hinnehmen. Berlin wurde von Franzosen besetzt, das Königspaar floh in die hinterste Ecke des Reiches. Legendär wurde die in zeitgenössischen Stichen festgehaltene Flucht der an Typhus erkrankten preußische Königin Luise bei Eis und Schnee über das Kurische Haff. Mit ihrem Diamantring soll Luise der Legende nach damals ein Goethe-Zitat in das Fenster eines Gasthauses in Nidden geritzt haben: "Wer nie sein Brod mit Thränen aß, wer nicht die kummervollen Nächte, Auf seinem Bette weinend saß, der kennt Euch nicht, ihr himmlischen Mächte."Die Niederlage der mit Preußen verbündeten Russen bei Friedland am 14. Juni 1807 zerschlug die letzten preußischen Hoffnungen. Der Tilsiter Friede vom 9. Juli 1807, der eher ein Diktat von Napoleon war, kostete Preußen die Hälfte seines Territoriums. Allerdings gingen hauptsächlich Besitzungen verloren, die erste wenige Jahre zuvor durch die polnischen Teilungen ergattert worden waren.Legendär wurde das Treffen an der Memel durch eine Begegnung von Königin Luise mit Napoleon am 6. Juli. Mit den Waffen der schönen Frau und als Märtyrerin ihre Volkes versuchte Luise damals den französischen Kaiser zu erweichen. "Sire, der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht." Napoleon aber blieb letztlich kalt. Die schöne "Königin der Herzen" und das französische Biest - das ist der Stoff, aus dem Mythen gewebt werden.Die 416 Meter lange Königin-Luise-Brücke über die Memel wurde anlässlich des 100. Jahrestages des Tilsiter Friedens 1907 eingeweiht. Mit der Sprengung der Brücke am 22. Oktober 1944 läuteten deutsche Landser den Abschied von Tilsit und von Ostpreußen ein. Die Bevölkerung floh danach westwärts. Am 20. Januar 1945 gelangten nach monatelangem Beschuss sowjetische Truppen in die Stadt. Wer dort noch lebte, wurde getötet, nach Osten deportiert oder nach Westen abgeschoben. Nur 6 500 von einst 60.000 soll es 1946 noch gegeben haben, in dem Jahr, in dem die Stadt den neuen russischen Namen Sowjetsk (Ratstadt) erhielt.Tilsiter KäseTilsit verschwand von der Landkarte, so wie Insterburg und Labiau, Tapiau und Gumbinnen. Doch anders als die genannten Städtchen hält der gleichnamige Käse die Stadt zäh und würzig in aller Welt in Erinnerung. Den ersten original Tilsiter Käse soll 1845 eine Frau Westphal in dem Örtchen Milchbude/Plauschwarren mit Kümmel und Salz angerührt haben. Die Rezepte gehen auf Einwanderer aus Holland und aus der Schweiz zurück. Charakteristisch für den kastenförmigen Käse, der heute auch wieder unweit von Sowjetsk in Slawsk (Heinrichswalde) produziert wird, sind die gerstenkornförmigen Löcher. Sie entstehen dadurch, dass der Quarkbruch in eine Form geschüttet und nicht gepresst wird. Die Molke läuft unter dem Eigengewicht der Käsemasse ab. Der Laib wird dann mit Salzwasser und Rotschmiere eingerieben."Der Tilsiter Käse richtet sich nach der Milch und der besonderen Vegetation", erinnert sich der gebürtige Tilsiter Gerhard Spilgies, dessen Eltern unweit der Stadt eine Fabrik betrieben, in der Butter, Tilsiter und Steinbuscher Käse hergestellt wurden. Ausgeliefert wurde bis nach Berlin. "Das Besondere ist die Löchrigkeit und die Herzhaftigkeit", erklärt der heute 70-Jährige, der sich noch gut an Fahrten mit seinem Vater über die Luisenbrücke Richtung Memel und Tauroggen erinnert.Spilgies, ein Maler und Grafiker, hält seit einigen Jahren wieder engen Kontakt zu seiner Heimatstadt. Es sei erstaunlich, wie gut er sich bei einem Spaziergang noch erinnern könne. Geräusche und Gerüche tauchten da plötzlich auf. Tatsächlich verrät dass heutige Sowjetsk im Grundriss noch sehr viel von Tilsit. Anders als Kaliningrad, das aktuell einen stürmischen Aufschwung erlebt, kommt Sowjetsk seit Jahrzehnten kaum vom Fleck. Immerhin hat der Kommunismus wenig neubaulichen Schaden angerichtet. Die Hohe Straße, die nun Straße des Sieges heißt (Uliza Pobeda), ist weiterhin die Einkaufsmeile, und wird von einigen renovierten Jugendstilhäusern und Gründerzeitbauten gesäumt. Sie mündet am Lenin-Denkmal auf dem ehemaligen Schenkendorf-Platz. Das Amtsgericht, das Finanzamt, alte Kasernen, der nun überdimensionierte Bahnhof, der Mühlenteich, das Stadttheater - diese markanten Punkte findet man noch. Die Zellstofffabrik ist immer noch größer Arbeitgeber der Stadt. Schmerzlich fehlen vor allem die Kirchen. Eine hat den Krieg als Lagerraum halb überstanden, die anderen sind Ruine oder längst abgerissen.Berühmte Tilsiter"Zugvögel" nennt die russische Schriftstellerin Apollinaria Sujeva liebevoll die Ostpreußen, die seit der Öffnung 1992 die nun russische Heimat besuchen. Wenige hundert gebürtige Tilsiter werden vielleicht noch leben. Unter diesen sind für eine Stadt dieser Größe erstaunlich bunte Vögel. Müssten die alten Tilsiter das Fest zum Brücken- und Friedensjubiläum ausrichten, könnte das Programm so aussehen: Zum Auftakt würde der Musiker Joachim Krauledat (geb. 12.4.1944) mit seiner Band auftreten. Besser bekannt ist Krauledat unter dem Namen John Kay, und noch besser bekannt als Sänger der Band "Steppenwolf". Wann immer auf der Welt der Song "Born to be wild" erklingt, hört man die Stimme eines waschechten Tilsiters.Ein ähnlich bunter Zugvogel ist Edgar Froese (geb. 6.6.1944). Als Gründer der Band "Tangerine Dream" prägt er noch heute weltweit die elektronische Pop-Musik und schrieb Filmmusiken für zahllose Hollywood-Produktionen. Ebenfalls in Hollywood gelandet ist der Schauspieler Armin Mueller-Stahl (geb. 17.12.1930). Im Rahmen eines Jubiläumsprogramms könnte er Verse des Tilsiter Freiheitsdichters Max von Schenkendorf ("Freiheit, die ich meine") oder von Johannes Bobrowski (geb. 9.4.1917) vortragen. Der Höhepunkt dieses virtuellen Programms könnte dann die Aufführung des "Hauptmannes von Köpenick" sein, denn auch der Original-Hauptmann Wilhelm Voigt erblickte in Tilsit das Licht der Welt (13.2.1849). Oder man gibt "Die Reise nach Tilsit", ein Krimi von Hermann Sudermann (1857-1928), der zur Weltliteratur zählt. Ein in Sudermanns Werk enthaltener Vierzeiler ist bis heute die schönste Liebeserklärung an die Stadt:"Tilschen, mein Tilschen, wie schön bist du doch!
Ich liebe dich heute wie einst,
Die Sonne wär nichts wie ein finsteres Loch,
Wenn Du sie nicht manchmal bescheinst."Eine "Tilsiterin" der neuen Generation, also eine gebürtige Sowjetskerin ist die 36-jährige Anschelika Spilowa. Die Kunsthistorikerin arbeitet im kleinen Stadtmuseum von Sowjetsk, das 1992 eröffnet werden konnte und auch die Geschichte der Stadt zu deutscher Zeit dokumentiert. "Davor hatte Tilsit von Adam bis Potsdam keine Geschichte", lacht die Russin. Heute aber, sagt Anschelika Spilowa, seien nahezu alle 43.000 Einwohner stolz auf diese Geschichte. Zäh habe man beispielsweise um die Rückkehr des historischen Tilsiter Elchdenkmals gekämpft, das nach Kriegsende in den Kaliningrader Zoo verschleppt worden war und 2006 unweit des Lenin-Denkmals einen neuen Platz fand. Auch das Portal der Luisenbrücke sei renoviert worden. Bis 1991 befand sich ein Wappen mit Hammer und Sichel im Fries des Portals. Inzwischen wurde dort wieder ein Relief der preußischen Königin rekonstruiert. Dazu passt, dass die Sowjetsker das Portal der Luisenbrücke in ihr neues Stadtwappen übernommen haben.Das Fest zum Tilsiter Frieden sei eine "Visitenkarte für die Stadt", freut sich Anschelika Spilowa. "Ich denke, dieses Jubiläum ist auch ein Schritt zu Tilsit, zu diesem historischen Namen." Das versunkene Tilsit, zuweilen flattert es noch wie Phönix aus der Asche.
Ende
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