Russland

Was Kinder auf die Straße treibt

Moskau lässt sich das "Jahr des Kindes" eine Menge Geld kosten. Wo wird das Geld am nötigsten gebraucht?

DE ROOY: Es gibt in diesem Land rund 734.000 Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben. Von diesen Kindern leben zum Glück 75 Prozent in Ersatzfamilien. Etwa 200.000 Kinder wachsen in Heimen auf. Sie könnten zwei bis drei Fußballstadien füllen. Natürlich ist es besser, Kinder in Heimen leben zu lassen als in einer gewalttätigen Familie oder auf der Straße. Aber das heißt nicht, dass Heime gut sind. Ein Drittel der Kinder, die aus solchen Einrichtungen kommen, haben Probleme, sich draußen zurechtzufinden. Unter diesen Kindern gibt es eine vergleichsweise hohe Selbstmordrate. Man sollte daher vielleicht weniger Geld für Heime ausgeben und dafür mehr Geld in Pflegefamilien investieren.


UNICEF-Leiters Carel de Rooy: "Die russischen Heimkinder könnten zwei bis drei Fusballstadien füllen". Foto: Carmen Eller

Warum gibt es in Russland so viele Kinder, deren Eltern noch leben, die aber trotzdem ohne sie aufwachsen?

DE ROOY: Nur etwa sieben bis acht Prozent aller Kinder, die nicht mit ihren leiblichen Eltern aufwachsen, sind wirklich Waisen. Obwohl die Wirtschaft seit 1999 einen großen Aufschwung erlebte, hat das die Armut nicht sehr stark verringert. Das liegt an der Sozialpolitik. Familien mit Kindern laufen eher Gefahr, arm zu sein, als Familien ohne Kinder. Das ist ein wichtiger Faktor in Russland, weil hier die Bevölkerung schrumpft. Zudem ist die Scheidungsrate in Russland sehr hoch. Rund 80 Prozent der Ehen werden hier geschieden. Es gibt also sehr viele Single-Haushalte. Das Kind ist vielleicht ein Hindernis, eine bestimmte Arbeit anzunehmen oder das Einkommen ist zu niedrig, also wird es in ein Heim gegeben.

Wie verhält sich der Staat dazu?

DE ROOY: Es ist leicht, das Kind dem Staat zu übergeben. Es gibt keine Hindernisse. Es ist noch ein Erbe des sowjetischen Staates: Wenn Sie ein Problem haben, überlassen Sie uns Ihr Kind. Wir werden uns darum kümmern. Und dann wird, das ist auch kulturell bedingt, in Russland unheimlich viel getrunken, vor allem unter Männern. Das kann zu Gewalt führen, der Mann schlägt die Frau, die Frau schlägt die Kinder, die Kinder laufen weg und landen auf der Straße. Gewalt treibt Kinder auf die Straße. Der Staat entzieht den Eltern das Sorgerecht mit Leichtigkeit. Ein Elternteil ist betrunken, schlägt das Kind und der Staat nimmt es sofort mit. Anstatt die Eltern zu fragen: Was ist das Problem? Sie nehmen Drogen oder Alkohol. Können wir Ihnen helfen? Haben Sie eine Tante oder Großmutter, wo Ihr Kind vorübergehend leben könnte? Man sucht nicht nach einer Alternative. Dabei würde dies nur einen Bruchteil dessen kosten, was an Geld aufgebracht werden muss, um ein Kind in einem Heim zu erziehen.


Aufgefangen - ein Junge auf dem Bolzplatz des Waisenhauses Otradnoje, das von UNICEF unterstützt wird. Foto: UNICEF/Alena Svirid

In welchen anderen Bereichen muss Ihrer Meinung nach dringend gehandelt werden?

DE ROOY: Ein Thema, das in diesem Land großer Aufmerksamkeit bedarf, ist Gesundheit. Der Gedanke der präventiven Vorsorge ist hier noch nicht angekommen. Ein Beispiel. Seit sieben Jahren kämpfen wir darum, ein Gesetz einzuführen, nach dem Salz mit Jod versetzt werden muss. Eine schwangere Frau, die in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft nicht genug Jod zu sich nimmt, schädigt damit das Gehirn des Kindes. Für immer. Ein anderes Beispiel: Wir proklamieren das Stillen. Heute stillen hier rund 35 Prozent der Frauen ihre Kinder bis zu sechs Monaten. Aber jedes Kind sollte gestillt werden. Auch hier behindern die Pharmakonzerne, die ihre Produkte auf dem Markt forcieren wollen, einen Umschwung. Ich glaube, Putin ist sich dessen gar nicht bewusst, dass man mit zwei, drei ganz einfachen Mitteln die Gesundheit der Bevölkerung stark verbessern könnte. 

Welche anderen Bereiche sollten im Moskauer "Jahr des Kindes" stärker in den Blick genommen werden?

DE ROOY: Behinderte Kinder. Sie werden buchstäblich von der Gesellschaft isoliert. Manchmal mit besten Absichten: Das Kind hat ein Problem, also will man ihm damit in einem speziellen Heim helfen. Die anderen Kinder in der Schule sollen nicht darunter leiden, also nimmt man es aus der Klasse heraus. Schauen Sie sich hier die Schulen und den öffentlichen Nahverkehr an. Da hat man überhaupt nicht an Behinderte gedacht. Darüber hinaus fehlt es ganz allgemein an Toleranz. Gegenüber Menschen, die anders aussehen, Menschen, die AIDS haben, Menschen, die Drogen nehmen.


Werbeposter der Stadt Moskau zum Jahr des Kindes 2007. Foto: Carmen Eller

Welche Möglichkeiten sehen Sie hier, die Gesellschaft zu verändern?DE ROOY: Im Nordkaukasus arbeiten wir seit einigen Jahren an einem kleinen, aber wirksamen Projekt. Wir bringen Kinder mit unterschiedlichem ethnischen und religiösen Hintergrund zusammen, etwa in Sommercamps, Theatergruppen oder Musikklassen, um ein harmonisches Zusammenleben zu fördern. In Dagestan haben wir ein Sommercamp durchgeführt mit 25 Kindern aus fünf Republiken des Nordkaukasus. Ein muslimisches Mädchen aus Inguschetien  freundete sich dabei sehr stark mit einem christlichen Mädchen aus Nord-Ossetien ein. Und sie weinten in der Nacht vor ihrem Abschied. Und das nach Beslan. Solche Schritte können eine Gesellschaft verändern.


Zur Person:Carel de Rooy wurde 1952 in Hilversum, Niederlande geboren. Für UNICEF war er unter anderem im Irak, Kolumbien, Venezuela und Nigeria aktiv. Seit Januar 2004 leitet er die UNICEF-Repräsentanz für Russland und Belarus.


Weitere Artikel