Im Zoo der Zivilgesellschaft
Michail Gorbatschow diskutiert mit Bürgerrechtlern über die russische Zivilgesellschaft
Moskau (n-ost) Welche Rolle spielen die Medien im Dialog zwischen Bürgern und Macht? Welche Entwicklungen durchläuft die Zivilgesellschaft in Russland? Welche Strategien verfolgen russische Nichtregierungsorganisationen? Zum 15-jährigen Bestehen seiner Gorbatschow-Stiftung lud der letzte Präsident der Sowjetunion die Creme der russischen Nichtregierungsorganisationen nach Moskau ein.Der Weg führt vorbei an Medaillen, Urkunden und Dankesbriefen aus der ganzen Welt. Die Teilenehmer an der großen Konferenz im Moskauer Haus der Gorbatschow-Stiftung müssen auf dem Weg zum Sitzungssaal an einer Batterie von Glasvitrinen vorbei: Die Welt liebt Gorbi. In Russland sind die Gefühle für den Vater der Perestrojka dagegen recht abgekühlt. Dementsprechend ist die Konferenz zum 15-jährigen Bestehen seiner "Stiftung für sozialökonomische und politische Studien" zwar gut besucht, aber lange nicht überlaufen. Geladen hat Gastgeber Michail Gorbatschow zu einem seiner Leib- und Magen-Themen: Gegenwart und Zukunft der Zivilgesellschaft. Rund 25 Wissenschaftler und Vertreter namhafter NGOs saßen auf dem Podium. Doch statt Meinungen auszutauschen, blieb nur Zeit für Monologe voller Frustration. In drei Blöcken ging es durch den Konferenztag, die NGOs gaben sich die Klinke in die Hand: Helsinki-Gruppe, Memorial, Glasnost-Stiftung. Statements in fliegendem Wechsel über Sichtweisen des Status quo.
Michail Gorbatschow im Kreise von Stipendiaten seiner Stiftung. Foto: Carmen Eller"Es gibt eine Zivilgesellschaft hier, aber sie ist fast wie ein Zoo", gibt sich Irina Chakamada vom Fonds "Unsere Wahl" ironisch. Bürgerbewegungen würden in einem geschützten Raum existieren, aber hätten "keinen Einfluss auf die Leute und könnten nichts bewegen", urteilt die Frau, die als einzige unabhängige Präsidentschaftskandidatin bei der Wahle 2003 haushoch gegen Wladimir Putin unterlag. In Europa habe der gesellschaftliche Protest dazu beigetragen, demokratische Staaten zu etablieren. "Dort hat sich die Nation als Bürgergesellschaft konsolidiert." Die Zivilgesellschaft in Russland habe jedoch "nicht den Anspruch, Macht zu übernehmen", so Chakamada. Vielmehr existiere ein "Graben zwischen Politikern und zivilgesellschaftlichen Organisationen." Ohne freie Presse und unabhängige Finanzierung gebe es auch keine Bürgergesellschaft. "Wenn das Land keine Strategie hat, wenn die ganze Welt als Feind gesehen wird, wenn man alle Spenden kontrolliert und die Gelder nicht frei fließen, kann daraus nichts werden", fürchtet Chakamada. "Wenn die Nation sich nicht als Bürgergesellschaft versteht, sondern als Nation von Untertanen, ist Zivilgesellschaft nicht möglich."Jens Siegert, der Vertreter der Heinrich-Böll-Stiftung in Russland, gibt zu bedenken, dass Aktivisten in Russland zwar politisch engagiert seien, aber nicht darum kämpfen würden, auch politische Macht zu erlangen. Politik werde in Russland einseitig als das Vorgehen der Regierenden verstanden. Trotzdem betont Siegert die positiven Entwicklungen der vergangenen fünf bis sieben Jahre. Zum einen sei eine "große Professionalisierung der Arbeit" zu beobachten. Diese hätte allerdings auch mit den "politischen Herausforderungen zu tun, mit denen Nichtregierungsorganisationen konfrontiert seien", fügt er diplomatisch hinzu. Zivilgesellschaftliche Bewegungen würden heute wesentlich selbstbewusster als früher auftreten, im Wissen darum, "dass es Interessen gibt, die verteidigt werden müssen."Gastgeber Gorbatschow hält sich lange im Hintergrund. Statt über die Erfolge seiner Stiftung zu philosophieren, zeigt er sich als aufmerksamer Zuhörer. Nur selten kommentiert er ein Statement, frotzelt dafür mit Ida Kuklina vom Komitee der Soldatenmütter, als diese von einem Hustenanfall geschüttelt wird. Man dürfe halt nicht so viel rauchen, meint er schmunzelnd. Irina Wirganskaja, seine Tochter und Vizepräsidentin der Stiftung, hält sich ebenfalls zurück. Doch nachdem alle Gäste gesprochen haben, holt auch Gorbatschow aus."Ohne Demokratie und Zivilgesellschaft können wir die Ziele nicht erreichen, auf die wir uns hinbewegen sollten", resümiert er am Ende der Konferenz. "Wahlen dienen der Erneuerung der politischen Elite auf allen Ebenen. Darum hätten wir kämpfen sollen." Doch das Wahlgesetz sei "kastriert" worden. Es diene nicht mehr dem Wohl der Nation, sondern lediglich dem Interesse einer Partei. "Sogar der Ausdruck von Protest durch Stimmabgabe wurde abgeschafft." Damit spielt der Stiftungspräsident auf die bis vor kurzem bestehende Möglichkeit an, auf dem Stimmzettel die Variante "gegen Alle" anzukreuzen.Unter dem Motto "Zu einer neuen Zivilisation" ist es erklärtes Ziel seiner Stiftung, Demokratie und humanistische Werte zu fördern. In der Zivilgesellschaft realisiert sich laut Gorbatschow "das zentrale demokratische Prinzip, die Beteiligung der Menschen". Putin habe zwar die Lage in Russland stabilisiert, aber dabei versäumt, in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs das Engagement der Bürger zu fördern. "Einerseits wird versucht, die Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen, andererseits wird sie imitiert", warnt Gorbatschow. Gesprochen hat er für das ganze Land, aber nur im eigenen Haus gibt es Applaus.ENDE-----------------------------------------------
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