Russland

„Ich hatte keinerlei Auflagen“ / Interview mit Alexander Mindadze

Das Datum der Atomkatastrophe von Tschernobyl jährte sich am 26. April 2011 zum 25. Mal. Fukushima hat das Thema wieder in den Fokus gerückt. War der Jahrestag für Sie der traurige Anlass, diesen Film zu drehen?


Alexander Mindadze:
Nein, der Gedanke, einen Film über einen Menschen zu drehen, der den Tag der Katastrophe in Pripjat nahe Tschernobyl erlebt hat, kam mir schon 2005. Ich mache Filme nicht auf Bestellung oder unter Berücksichtigung von Aktualitäten, sondern aus einer seelischen Berufung heraus. Ich wollte einen Film über kleine Leute machen. Sie waren es, die am meisten gelitten haben. Es war mir wichtig, deren Schicksal zu zeigen. Dass die Ereignisse in Japan dieses Thema wieder so aktuell machen, bereitet mir Sorgen und zeugt noch einmal davon, dass dieses Schreckensszenario immer und überall passieren kann.


Ist Tschernobyl in Russland überhaupt noch ein Thema?


Alexander Mindadze: 
Kein sehr aktuelles, und es gibt natürlich dramatischere und aktuellere Themen, mit denen sich die Medien heutzutage beschäftigen, sprich Menschenrechte und ähnliches. Da rückt Tschernobyl leicht in den Hintergrund.


Selbst nach den aktuellen Ereignissen in Japan?


Alexander Mindadze: 
Wir stehen vor den Wahlen und bereits mehr als 30 Prozent des Apparates wurden durch neue Beamte ersetzt, Gouverneure, Bürgermeister, Ministeriumsmitarbeiter. Da bleibt wenig Zeit für Umweltfragen. Hier schreibt die Presse gerne, dass die russische Regierung bereit ist, den Japanern eine Anlage zur Neutralisierung von Atommüll zu leihen. Im Übrigen wurde diese noch vor einigen Jahren von den Japanern selbst finanziert. Über eine Gefahr, die von den landeseigenen Kraftwerken ausgehen könnte, redet aber niemand. Die Bevölkerung sieht das Ganze deshalb sehr gelassen, bis auf einige kleinere, einflussschwache und fast unsichtbare Gruppen von Atomgegnern.


Hat sich in den vergangen 25 Jahren das Denken über Atomkraft in Russland verändert?


Alexander Mindadze:
Nein, auch nach der Katastrophe nicht. Die Menschen wissen genau: Egal, was sie über Atomkraft denken, verändern werden sie sie nicht. Es ist eine globale Industrie, die niemand stoppen kann.


Gibt es russische Spielfilme oder Dokumentationen, die sich diesem Thema widmen?


Alexander Mindadze:
Das hier ist der einzige Spielfilm, der zu diesem Thema existiert. Es wurden natürlich einige Dokumentarfilme gedreht, und es wird zum Jubiläum auch neue geben.


Gab es keine Auflagen beim Dreh von „An einem Samstag“?


Alexander Mindadze: Ich hatte keinerlei Auflagen bei dem Film, und wenn es welche gäbe, hätte ich sie nicht befolgt. Ich bin schon ziemlich lange im Geschäft und habe schon viele Filme in einem System gedreht, das wesentlich aggressiver war. Damals haben wir es geschafft, die Regimezensur zu umgehen, indem wir kritische Dinge ein bisschen verdeckt ausgesprochen haben. Wenn die Zensur heute noch existiert, dann geht sie neue Wege, den Weg des Geldes über die Produzenten. Das Problem hat sich einfach nur verlagert – von den Autoren auf die Produzenten. Letztere finanzieren ein Projekt einfach nicht, wenn sie befürchten, ein Thema könnte gefährlich werden.


Wie ist die gegenwärtige Situation für Filmemacher in Russland?


Alexander Mindadze: Die Probleme sind heute überall dieselben. Es dreht sich alles ums Geld, und wenn man die richtigen Investoren gefunden hat, kann man einen Film drehen. Es gibt keine staatlichen Auflagen, was den Inhalt der Geschichten oder die Themenwahl betrifft, auch nicht bei politischen oder kritischen Themen. Vielmehr machen die Privatinvestoren Probleme, sie geben kein Geld für regierungskritische Filme. 


Wie sieht es heute in der Region um Tschernobyl aus?


Alexander Mindadze:
Das ist ein verlassenes Sperrgebiet, und da kommt man eigentlich auch nicht rein. Es gibt aber trotzdem einige verrückte Menschen, die dort immer noch leben. Und das sagt sehr viel über die Mentalität der Menschen aus und darüber, wie sie zum Leben stehen. Das Leben ist nichts wert.


Was hat es mit der im Film gezeigten „Dekontamination durch Rotwein“ auf sich?


Alexander Mindadze:
Das ist keine Legende, das ist wahr. Kurz nach der Explosion des Kernreaktors hat die Sowjetunion Unmengen an moldawischem Rotwein in die belastete Region verschickt. Wissenschaftler und Ärzte waren der Meinung, dass das Strontium, was in der Luft war, durch den Rotwein aus dem Körper gespült werden kann. Es kamen nach dem Unfall viele Journalisten mit zehn Weinflaschen im Gepäck aus Tschernobyl zurück und sagten: ,Leute, es gibt kostenlos Rotwein, genial!´


Wie haben Sie für diesen Film recherchiert?


Alexander Mindadze: Das meiste, was man im Film sehen kann, entstammt den Tagebüchern von Leuten, die am Tag der Explosion in dieser Stadt waren.


Der Film hat ein sehr trauriges Ende. Man weiß, für die Beteiligten kommt jede Hilfe zu spät. Hätte man nicht einen Menschen lebend entkommen lassen können?


Alexander Mindadze:
Diesen Gedanken hatte ich nicht, weil er einfach nicht der Wahrheit entspricht. Abgesehen davon, gibt es am Ende des Films kein endgültiges Urteil, das besagt: Ihr alle werden sterben. Es gibt auch Leute, die in der Nähe des Reaktors waren und überlebt haben. Das ist eine Frage der körperlichen Verfassung und auch der Körpermasse. 


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