Wenn sich Grenzen auflösen
Mitten im Westen dem Osten begegnen – so beschreibt das goEast-Filmfestival in Wiesbaden seinen Auftrag, den es nun eine knappe Woche lang zum elften Mal erfüllte. Und das, obwohl kaum ein größerer Gegensatz zu bestehen scheint als zwischen der heilen Welt dieser wohlhabenden Kurstadt und der rauen Provinz Russlands oder den Hinterhöfen Bukarests, wo einzelne der insgesamt 127 gezeigten Filme aus 30 Ländern spielten.
Doch die neue Festivalleiterin Gaby Babic ist gegen das ausschließliche Denken in räumlichen Grenzen – für sie kann der Osten im Zeitalter der Globalisierung auch schon in Wiesbaden beginnen, beispielsweise in der polnischen Eckkneipe oder beim russischen Lebensmittelhändler. Dieser grenzüberschreitende Grundgedanke war in diesem Jahr in den zwei Wiesbadener Wettbewerben mit zehn Spiel- und sechs Dokumentarfilmen deutlich erkennbar.
In der ungarischen Komödie „Kinder des grünen Drachens – A Zöld Sárkány Gyermekei“ lehrt etwa der Chinese Wu den ungarischen Immobilienmakler Máté, wie er an seiner Verlierermentalität arbeiten kann. Diese sei für die Menschen in Osteuropa typisch, sagte Regisseur Bence Miklauzic bei der Deutschlandpremiere seines Films in Wiesbaden. „In Osteuropa herrscht eine ganz andere Lebenseinstellung vor als im Westen. Die Menschen betrachten sich als Opfer.“ Diese Haltung hinterfragt der Film „Kinder des Grünen Drachens“ mit Humor und ohne besserwisserische Attitüde.
Von Grenzüberschreitungen handelte in Wiesbaden auch der russische Wettbewerbsbeitrag „Der Heizer – Kochegar“ von Alexej Balabanow, in dem er sich nebenbei mit dem Verhältnis der Russen zum indigenen Volk der Jakuten befasst. Nachdem sich Balabanow in seinen letzten zwei Filmen „Fracht 200 – Grus 200“ und „Morphium – Morfej“ erst am sozialistischen und dann am revolutionären und postzaristischen Russland abgearbeitet hatte, attackiert er mit dem „Heizer“ nun die postkommunistische Gesellschaft mit ihrer Willkürherrschaft durch die Mafia.
Balabanow wäre nicht der Provokateur, der er ist, wenn er das ernste – und blutdurchtränkte – Thema in seiner Krimikomödie nicht total verballhornen würde: Da wird in einer russischen Provinzstadt im Minutentakt gemordet und gemetzelt – doch ein flotter Gitarrensound konterkariert jede Ernsthaftigkeit. Wer auf Balabanow steht, kommt im „Heizer“ erneut auf seine Kosten – die Handschrift des russischen Enfant terribles ist deutlich erkennbar. Doch auch die Kritiker werden wieder genug Stoff haben, an den ethischen Grundsätzen des notorischen Unruhestifters zu zweifeln. Die Wiesbadener Jury unter dem serbischen Regisseur Zelimir Zilnik schlug sich allerdings auf die Seite der Balabanow-Fans und verlieh den Hauptpreis des Festivals – die mit 10.000 Euro dotierte Goldene Lilie – an den „Heizer“.
Leer ging in Wiesbaden hingegen der rumänische Regisseur Cristi Puiu aus, der im internationalen Festivalzirkus ähnlich bekannt ist wie Balabanow. In seinem bereits mehrfach prämierten Wettbewerbsbeitrag „Aurora“ veranschaulicht Puiu die totale Perspektivlosigkeit seines arbeitslosen und frisch geschiedenen Protagonisten Viorel (gespielt vom Regisseur selbst), der seine persönlichen Verletzungen durch drei kühl geplante Morde aufarbeitet, die in ihrer Vorbereitung und Ausführung allerdings profan bleiben. Mord als Alltäglichkeit – es ist der Gleichmut, der in diesem Film schaudern lässt.
Deprimierende Ausweglosigkeit beschrieb in Wiesbaden auch Helena Trestikova mit ihrem Beitrag „Katka“ für den Dokumentarfilmwettbewerb. Die Pragerin, die 2008 mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde, hat sich darauf spezialisiert, extrem lange Zeiträume abzubilden. In „Katka“ begleitet sie eine Heroinabhängige von ihrem 19. bis zu ihrem 33. Lebensjahr. Der Zuschauer erlebt dabei einen gnadenlosen Kampf zwischen Hoffen und Selbstaufgabe, der schließlich nicht zum herbeigewünschten Happy End führt: Es sind eben leider noch nicht alle Grenzen überwindbar.