Das Grauen auf den zweiten Blick
Ein Interview mit Beslan-Fotograf und Pulitzer-Preisträger James Hill Moskau (n-ost) - Am 3. September 2004 starben bei einem missglückten Sturm auf die Schule Nummer eins der nordossetischen Kleinstadt Beslan 332 Menschen, davon 176 Kinder. Drei Tage lang hatte eine Gruppe nordkaukasischer Terroristen mehr als 1000 Menschen gefangen gehalten und die Schule mit Bomben und Minen gesichert. Die Explosion einer dieser Bomben löste den Sturm aus, der zu einem Massaker wurde. Der britische Fotograf James Hill hat Krisengebiete auf der ganzen Welt besucht, auch die Schrecken von Beslan hat er auf Zelluloid gebannt. Für diese Aufnahmen erhielt er den ersten Platz im Wettbewerb „World Press Photo“. Anlässlich des zweiten Jahrestages der Tragödie sprach unsere Korrespondentin Carmen Eller mit dem 39-jährigen Pulitzer-Preisträger in Moskau über die Arbeit in Krisengebieten, die Diskrepanz von Auftrag und Wirklichkeit, den Zwang zur Amnesie und den Fotografen als Fragesteller. Pulitzer-Preisträger und Beslan-Fotograf James Hill. Foto: Carmen EllerFRAGE: Welche Erinnerungen haben Sie an ihre Arbeit in Beslan? HILL: Zu diesem Zeitpunkt hatte ich kein Interesse an der politischen Seite des Themas. Die Ereignisse hatten mich zutiefst schockiert und ich empfand sehr viel Schmerz. Ungeschriebene Gesetze wurden in Beslan gebrochen. Ich hatte nie zuvor etwas derart Barbarisches gesehen. Diese große Missachtung von Kindern und Frauen. Das hat mich krank gemacht. Beslan warf eine Frage auf, die weit über die Tatsache hinausreichte, dass 300 Menschen getötet wurden. Im Irak brachte man in zwei Tagen 300 Menschen um, aber trotzdem stellte uns dies nicht vor die gleiche Frage wie die Ereignisse in Beslan. Sie schockierten nicht nur die Menschen, die Kinder und Verwandte verloren hatten, sondern eine ganze Gesellschaft. Kinder möchten zur Schule gehen und werden dafür umgebracht. Die Fotos sollten Menschen helfen, die Frage zu verstehen, die Beslan gestellt hat. FRAGE: In Ihrer Schwarz-Weiß-Serie zu Beslan, die auch in Moskau zu sehen war, konfrontieren Sie den Betrachter nicht unmittelbar mit Gewalt und Tod.HILL: Die Fotos zeigen Gewalt, ohne Gewalt zu zeigen. Es ging mir darum, eine Vorstellung davon zu geben, was die Gewalt in den Menschen zurückgelassen hat. Wenn ein Foto sehr viel Gewalt zeigt, schaut man sich das an und das war es. Bei den Fotos, die ich zwei Wochen nach den Ereignissen aufnahm, muss der Betrachter sich mehr anstrengen. Dafür glaube ich, beschäftigen sie ihn mehr und bleiben länger in Erinnerung. Das gilt zum Beispiel für das Foto der beiden Jungen im leeren Korridor oder die Aufnahme von dem Mann, der die letzten Bücher aus der Bibliothek rettet. Ich fand es ermutigend, dass man diese Sicht genauso honorieren konnte wie Aufnahmen frontaler Gewalt. FRAGE: Sie haben immer wieder in Kriegsgebieten fotografiert und waren dabei ständig mit Tod und Gewalt konfrontiert. Wie haben sich diese Erfahrungen vor Ort auf Sie ausgewirkt? HILL: Man wird kälter dem Tod gegenüber. Ich weiß nicht, wie viele Leichen ich in meinem Leben gesehen habe. Das ist eine vierstellige Zahl. Ich habe Tausende von Toten gesehen. Du gewöhnst dich daran, insbesondere wenn es sehr viele in einer kurzen Zeitspanne sind. Mich belasten aber nicht die Toten. Mich belastet es, Menschen sterben zu sehen. Menschen, die verwundet wurden oder buchstäblich verhungern. Das belastet mich, nicht die Toten. Für die Toten kann man nichts mehr tun. FRAGE: Wie verarbeiten Sie persönlich die Bilder des Grauens? HILL: Zum Teil versuche ich einfach zu vergessen, was ich gesehen habe. Einerseits entwickele ich also eine Art von Amnesie, andererseits versuche ich das Erlebte zu verstehen. Wenn man diese Amnesie nicht entwickelt, lebt man am Ende mit zu vielen Geistern. Außerdem führe ich oft Tagebuch. Ich hatte eines im Irak und auch in Afghanistan. Vielleicht ist das etwas, was ich für mich selbst tun muss, aber tatsächlich ist es mehr für meine Kinder. Eines Tages werden sie mir wahrscheinlich eine ganze Menge Fragen stellen, die ich dann nicht mehr beantworten kann. Dann werde ich ihnen meine Aufzeichnungen zu lesen geben. Ich habe meinen Vater, der in Kriegen war, danach gefragt, wie es war, aber er konnte überhaupt nicht über seine Erlebnisse sprechen. Ich fand das ziemlich frustrierend. Deshalb möchte ich es bei meinen Kindern anders machen. FRAGE: Erwartungen von Auftraggebern und die Sichtweise der Journalisten vor Ort können zum Teil stark auseinander gehen. War das auch bei Ihnen ein Thema? HILL: Das ist tatsächlich ein Problem, das ich bis zum heutigen Tag habe. Leider haben Redakteure, die weit entfernt vom Schauplatz leben, oft ganz andere Erwartungen und es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was geschieht, und der Vorstellung des Redakteurs. Da denke ich zum Beispiel an meine Zeit in Afghanistan, als man mich nach dem Fall der Taliban anrief und um Fotos von Frauen ohne ihre Burkas bat. Fakt war, dass man einmal in zwei Wochen eine Frau ohne Burka gesehen hat. Es war nicht so, dass die Frauen plötzlich alle ohne ihre Burkas durch die Straßen rannten. Aber so stellten sich die Redakteure die Befreiung vor. Also sind sie enttäuscht, wenn man ihnen diese Bilder nach drei Tagen noch nicht geliefert hat. Oft möchten Redakteure, dass deine Fotos mit ihrer Realität übereinstimmen, anstatt das zu akzeptieren, was du gesehen hast.
ZUR PERSON James Hill wurde 1966 in London geboren. Er studierte Geschichte in Oxford und Fotojournalismus in London. Nach seinem Abschluss im Sommer 1991 ging er in die Sowjetunion. Bis 1995 lebte er als freier Fotograf in Kiew, bevor er 1995 begann, für die New York Times in Moskau zu arbeiten. Er dokumentierte unter anderem die Kriege in Tschetschenien, Afghanistan und im Irak, und gewann 2002 den Pulitzer-Preis für Fotografie. Seine Schwarz-Weiß-Serie über die Tragödie in Beslan gewann einen ersten Platz innerhalb des Wettbewerbs „World Press Photo“. James Hill fotografiert unter anderem für Spiegel, Stern, Time, Newsweek und die New York Times. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Moskau. ENDE------------------------
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