Putsch in Moskau: Ein Aufstand alter Männer
Vor 15 Jahren beschleunigte ein Umsturzversuch gegen Gorbatschow das Ende der SowjetunionMoskau (n-ost) – Am 20. August 1991 soll in Moskau ein Vertrag unterzeichnet werden, der den einzelnen Sowjetrepubliken größere Souveränitätsrechte zuerkennt. Es ist Michail Gorbatschows Versuch, den völligen Zerfall der Sowjetunion zu verhindern. Doch am 18. August um 16.50 Uhr wird der sowjetische Präsident in seinem Urlaubsdomizil auf der Krim auf Befehl eines „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ interniert. Panzer gehen in Moskau in Stellung. Das Land steht drei Tage lang an der Schwelle zum Bürgerkrieg und die Welt vor einer Neuauflage des Kalten Krieges. Der Autor hat die Ereignisse damals als Sprachstudent in Moskau miterlebt.„Im Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit von Michail Sergejewitsch Gorbatschow gehen gemäß Artikel 127 der Verfassung der UdSSR die Vollmachten des Präsidenten auf den Vizepräsidenten Gennadij Iwanowitsch Janajew über.“ Als diese Erklärung am Montag, den 19. August, um 6 Uhr im Radio verlesen wird, scheint es, als habe jemand mit einem großen Daumen den Lauf der Erde angehalten. Die russische Hausfrau Rimma Aleksandrowa, meine Gastmutter, ist an diesem Morgen seltsam gelöst. „Sie machen es wie bei Chruschtschow“, kommentiert die 50-Jährige nüchtern. Dass sie Gorbatschow keine Träne nachweinen würde, hatte sich in den vergangenen Tagen angedeutet. Was war aus der stolzen Sowjetmacht geworden? Die DDR war von der Landkarte verschwunden, der Warschauer Pakt in den Westen übergelaufen, ja die Sowjetunion selbst stand vor dem Zerfall. Schlimmer noch das wirtschaftliche Desaster: Für ein Kilo Zucker muss Rimma Aleksandrowna eineinhalb Stunden in der Schlange stehen, Käse gibt es seit einem Jahr keinen mehr in den staatlichen Läden, der Rubelkurs befindet sich derart im freien Fall, dass jeder Ausländer mit 100 Dollar in der Tasche in Moskau die Puppen tanzen lassen kann. Perestrojka und Glasnost mögen den Sowjetbürgern ungeahnte Freiheiten gegeben haben, doch welchen Wert hat unter diesen Bedingungen Freiheit?Eine Panzertruppe ist zu Jelzin übergelaufen. Die Verteidiger des Weißen Hauses schmücken die Kanonenrohre mit Blumen, als Zeichen ihrer Gewaltfreiheit. Foto: Andreas Metz Auf den Straßen und in der Moskauer Metro ist es an diesem Morgen ungewöhnlich ruhig. Es herrscht ein Schwebezustand, in dem jeder schweigend um seinen Stadtpunkt ringt, die Gefahr vor Augen, plötzlich auf der falschen Seite zu stehen. Noch kann niemand einschätzen, wie stark die neuen Machthaber sind, wo sie überall ihre Augen und Ohren haben. Gegen Mittag gehen Militärfahrzeuge an neuralgischen Punkten Moskaus in Stellung, richten drohend ihre Kanonenrohre aus. Doch auch die Soldaten wirken verunsichert. Einige Panzer werden sogar von spielenden Kindern erobert.In unserer Schule spricht die junge Russischlehrerin Lisa von einem furchtbaren Alptraum, den sie bei vollem Bewusstsein träume, von einer Gewitterschwüle, die sich urplötzlich auf das Land gelegt habe. Sie ist wie gelähmt: „Ich habe Familie. Ich will einfach nicht auf der Straße mein Leben riskieren.“ Dann willigt sie doch ein, kleine Protestzettel zu schreiben, die wir heimlich in der Metro aufhängen: „Noch ist es nicht zu spät! Protestiert gegen die Diktatur!“. SMS und E-Mail sind 1991 noch nicht erfunden.Es ist ein anderer Zettel, der die Menschen fasziniert, der hastig kopiert gegen Mittag den ersten Informationshunger stillt und die Erstarrung der Menschen aufbricht. „An die Bürger Russlands“ ist er überschrieben, ein Aufruf, gegen den „verfassungsfeindlichen Umsturz“ in den Generalstreik zu treten. Die Unterschrift des russischen Präsidenten Boris Jelzin steht darunter. Erst am 12. Juni war Jelzin in freien Wahlen in dieses Amt gewählt worden. Jelzin lebt also. Wie lange noch?Vor dem Weißen Haus an der Moskwa sammelt sich der Widerstand. Stolz wird die Fahne Russlands hochgehalten. Die rote Sowjetfahne hat ausgedient. Foto: Andreas Metz Das Radio wiederholt immer wieder die gleiche Erklärung. Im Fernsehen gibt es nur Spielfilme und dreimal hintereinander Schwanensee. Dann um 20 Uhr treten in der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ die Putschisten erstmals vor die Augen von 250 Millionen Sowjetbürgern und der restlichen Welt. Gorbatschows halbes Kabinett ist ihm in den Rücken gefallen: der Verteidigungsminister, der Innenminister, der Ministerpräsident, der KGB-Chef. Vizepräsident Janajew wird vorgeschickt. Die Kamera zeigt sein blasses Gesicht und seine zitternden Hände.
Und dann geschieht das Wunder: Zwischen die gleichgeschalteten Verlautbarungen rutscht ein zweiminütiger Beitrag über den Bau von Barrikaden vor dem Weißen Haus, dem Sitz des russischen Parlaments. Jelzin steigt dort auf den Panzer einer zu ihm übergelaufenen Einheit. Den Kommentar verstehe ich nicht, aber das Bild prägt sich ein. Dass es überhaupt gesendet werden konnte, dass Jelzin nicht rechtzeitig vom KGB verhaftet wurde, dass sogar Panzer auf seiner Seite stehen, entlarvt mit einer Szene die Schwäche der Putschisten. Ihre Macht, die Sowjetmacht, erweist sich als leere Hülse.Geschichte beliebt sich - zu ihrem Wohl oder Wehe - bisweilen in einzelnen Personen zu bündeln; zumal im traditionell auf autoritäre Führungspersonen ausgerichteten Russland. Aus dem Blick Janajews spricht die ganze Kraft- und Ratlosigkeit des siechen Sowjetsystems. Boris heißt auf Russisch: der Kämpfer. Der glühende, kraftstrotzende Jelzin scheint den Weg zu kennen. Man stelle sich einen Rollentausch der beiden vor.So findet der Widerstand eine Galionsfigur und sein Ziel. Trotz Ausgangssperre ziehen in der Nacht immer mehr Menschen zum Weißen Haus. Bei einer Kundgebung am Dienstagvormittag, an der wir teilnehmen, sind es vielleicht 25.000. In einer Stadt mit zehn Millionen Einwohnern eine lächerliche Zahl. Aber immerhin auch 25.000 Schutzschilde. Kosaken sind unter ihnen, Priester. Geld und Lebensmittel werden gesammelt. „Freiheit oder Tod“ und „Jelzin, Jelzin“ skandiert die Menge, als dieser, halb verdeckt durch einen schusssicheren Schild auf dem Balkon auftaucht. Andere Demonstranten ziehen zur Gegenpartei auf den Roten Platz, reden auf Soldaten ein, die den Kreml abgesperrt haben, stecken ihnen Nelken in Gewehrläufe und flehen: „Schießt nicht auf das Volk.“In der Nacht zum Mittwoch, dem 21. August, passiert genau dies, als sich Panzer in die Unterführung vor dem Weißen Haus vorwagen, in einer Barrikade hängen bleiben und von einer entschlossenen Menschenmenge mit bloßen Fäusten attackiert werden. Den Soldaten wird mit Wolldecken die Sicht genommen, panisch fahren sie umher, töten drei junge Männer. Ich komme am nächsten Morgen ahnungslos an der Stelle vorbei, sehe Menschen, die Blumen niederlegen und Kerzen entzünden. Die Putschisten, so heißt es später, befahlen in jener Nacht den Sturm auf das Weiße Haus. Ein gigantisches Blutvergießen wäre die Folge gewesen. Doch die Kommandeure der dafür ausgewählten KGB-Sondereinheit hätten den Befehl verweigert.Am Mittwochmittag sind die Würfel gefallen. Als ich im Hauptpostamt ein Telegramm in die Heimat aufgeben will, ziehen vor dem nahen Kreml plötzlich die Panzer ab. Der Daumen gibt den Globus frei und dieser macht einen Satz nach vorne. In der Nacht kehrt der befreite Gorbatschow von der Krim nach Moskau zurück, zu diesem Zeitpunkt ist die Kommunistische Partei, deren Generalsekretär er ist, bereits durch einen Erlass Jelzins verboten.Nachdem die Putschisten aufgegeben haben, treffen sich die Verteidiger des Weißen Hauses zur Siegesfeier. Vom Balkon aus spricht Jelzin zu der Menge. Foto: Andreas MetzAm Donnerstag demonstrieren Hunderttausende euphorisiert in den Straßen Moskaus, schwenken die russische Trikolore anstelle der Roten Fahne. Drei Putschtage lang weinte der Himmel, nun strahlt die Sonne. Wir ziehen quer über den Roten Platz an Lenins finsterem Mausoleum vorbei, lassen uns mit der Menge treiben, die der Lubjanka zustrebt – Hauptquartier und Kerkerhaus des KGB, bewacht vom Denkmal Feliks Dzierzhynskis, des Gründervaters der ersten kommunistischen Geheimpolizei „Tscheka“. Das Haus wird verschont, doch wir beobachten, wie ein blonder Mann unter Lebensgefahr das 15 Meter hohe Denkmal besteigt, als hätte er Saugnäpfe an den Händen. Er steigt dem Tschekisten-Chef auf die Schulter, wickelt ein Stahlseil um dessen Körper. Ein Kran, der herbeieilt, bemüht sich damit, das Denkmal in den Staub zu ziehen. Erst spät in der Nacht ist die Teufelsaustreibung vollendet. Zeitgleich verkündet ein Freudenfeuerwerk an der Moskwa eine neue Zeit, und Hausfrau Rimma Aleksandrowna hat nun doch ein paar Tränen der Rührung in den Augen.Tausende demonstrieren friedlich vor der Lubjanka, dem Hauptquartier des KGB. Ein junger Mann erklettert wie von Flügeln getragen das Denkmal des Tscheka-Gründers Feliks Dzierzynski und gibt das Signal zum Denkmalsturz. Foto: Andreas Metz Nie war Gorbatschows Phrase „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ zutreffender als für diesen dilettantischen Moskauer Putschversuch. Sechs Jahre lang wäre Zeit gewesen, Gorbatschow zu beseitigen. Sein Verdienst wird es immer bleiben, sich exakt so lange im Amt gehalten zu haben, bis die Freiheit Osteuropas und die Öffnung des Völkergefängnisses Sowjetunion unumkehrbar waren.An „ungeheuer euphorische Momente“ erinnert sich der damalige Moskauer ARD-Korrespondent Wolfgang Roth und fügt an: „Dann sind eine Menge Illusionen zerschlagen worden.“ Jelzin, der vorgab, den Weg zu kennen, erwies sich als Meister im Zerstören alter Strukturen. Der KGB wurde am 28. Oktober 1991 aufgelöst, Gorbatschow trat am 25. Dezember zurück, kurz bevor die Sowjetunion am 31. Dezember zu existieren aufhörte. Staatsbesitz wurde privatisiert, die Preise freigegeben. Eine kleine Gruppe machte dadurch glänzende Geschäfte, doch das Leid der Bevölkerung nahm in den 90er Jahren unvorstellbare Ausmaße an. So sank die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer auf 58 Jahre. Welchen Wert hat unter diesen Bedingungen Freiheit? Was nutzt Demokratie, wenn der Mensch im Chaos lebt? So ist es erklärlich, dass mit Wladimir Putin heute ein populärer „Tschekist“ an der Spitze des Staates steht, der sich an die Augusttage des Jahres 1991 nur ungern erinnert.Ende