Deutschland

Roma-Identität zum Anfassen

Wo liegt Zigeunerland? Was bedeutet das Rad auf der Roma-Fahne? Wieso nennen die Gadje das  Ketchup Zigeunersoße? Mit Antworten auf diese Fragen will Schriftsteller Jovan Nikolić Romakindern ihre Kultur nahe bringen. Dafür öffnet er für sie einmal in der Woche seinen grünen Koffer.

Der Kofferdeckel ist kaum einen Spalt weit angehoben, schon fischen die Kinderfinger kleine Schätze des Alltags heraus. Sie drehen und begutachten Gegenstände, die mit dem Leben ihres Volkes zu tun haben: Ein rostiges Hufeisen, ein buntes Bild der heiligen Kali Sara, eine Swing-CD oder eine Packung Fertigsoße.

Seit 2009 zieht Jovan Nikolić, Kölner Roma-Schriftsteller serbischer Herkunft, mit seinem Projekt „Kulturkarawane“ durch die Klassenzimmer der Kölner Romaschule. Die Kulturkarawane ist Teil des dortigen Schulprojekts Amaro Kher („Unser Haus“ auf Romanes), das Bildungsprogramme für Romakinder anbietet und sie an den regelmäßigen Schulbesuch heranführen will. Die meisten dieser Kinder wohnen mit ihren Eltern in Flüchtlingsheimen, ihr Aufenthaltsrecht und damit ihre Zukunft in Deutschland ist unsicher. Viele von ihnen waren vorher noch nie in einem Kindergarten oder einer Schule. Bei einer Reihe von Kindern ist die Entwicklung stark retardiert: die Feinmotorik ist kaum ausgebildet, ihre Konzentrationsfähigkeit mangelhaft, ihr Sozialverhalten mitunter schwierig.

Selbstbewusstsein als Voraussetzung für Integration

Nikolić, der selbst in beiden Kulturen lebt, will eine Verbindung zwischen den Romakindern und der deutschen Mehrheitsgesellschaft schaffen. „Beide Seiten müssen nicht nur etwas über einander wissen, sondern zuerst einmal über sich selbst“, sagt der 55-Jährige. „Nur wer seine eigene Identität kennt und Selbstbewusstsein daraus zieht, kann sich in eine andere Gesellschaft integrieren.“

Der Schlüssel sei dabei das taktile Erleben, die Kinder können alle Gegenstände aus dem Koffer in die Hand nehmen. Nur dasitzen und ihm zuhören, das würde nicht klappen. Nikolićs Ziel ist, die Kinder, deren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland kamen, mit ihrer Religion, ihren Mythen und ihrer besonderen Geschichte, aber auch den Wurzeln ihres tiefen Aberglaubens vertraut zu machen.

Schätze aus dem grünen Koffer (Foto: Dagmar Vohburger)

Klischees, Arberglaube und Alltagskultur

Ist das Eis erst gebrochen, wird Nikolić mit Fragen überhäuft. Die 6- bis 13-jährigen Schüler  staunen, wenn sie erfahren, dass es mehr Roma in Europa gibt als Griechen, Portugiesen, Tschechen, Schweden, Ungarn oder Österreicher. Sie hören von Jovan, dass ihr Volk zwar keinen eigenen Staat hat – wenn doch, so wäre er von der Zahl seiner Einwohner auf Platz 9 in Europa. Sie lernen die Hymne Gelem-Gelem und eine Flagge kennen, die die Farben des Grases und des Himmels trägt. Das darauf abgebildete Rad steht für Bewegung, für das fahrende Volk.

In Romanes bezeichnen sich die Kinder selbst als Roma. In einer fremden Sprache nennen sie sich jedoch Zigeuner. Alle Nicht-Roma dagegen heißen Gadje. Das haben die Mädchen und Jungen von klein auf gehört. Aber sie müssen herzhaft loslachen, wenn ihnen Jovan, bevor er seinen Koffer für heute zuklappt, noch vorliest, dass diese Gadjes Soßen und Schnitzel nach ihrem Volk benennen.

Die Kinder macht es stolz, wenn ein echter Schriftsteller ihnen erklärt, dass große Künstler wie der Regisseur Tony Gatlif, der Musiker Django Reinhardt oder der Schauspieler Yul Brynner zu ihrem Volk gehören. „Auch Elvis hatte Sinti-Vorfahren“, erzählt Jovan den wild um seinen Koffer herum jagenden Schulkindern.

Jovan Nikolic (Foto: Dagmar Vohburger)

Nikolić – Autor zeitgenössischer Roma-Literatur

Das, was Nikolić den kleinen Roma erzählt, weiß er nicht nur aus Büchern, sondern aus seiner eigenen Kindheit. Mit seinen Musiker-Eltern, einem Rom und einer Serbin, reiste er als Kind Anfang der 1960er Jahre durch das ehemalige Jugoslawien. Sei Vater spielte Saxophon, seine Mutter war Sängerin. Später wohnte er in der serbischen Kleinstadt Čačak in einem Romaviertel, wo er die Schule besuchte und anschließend eine Ausbildung als Maschineningenieur abschloss.

Seit seiner Jugend schrieb er Gedichte. 1982 erschien schließlich sein erstes Buch. Zu dieser Zeit lebte er in Belgrad, verfasste Theaterstücke und stand als Schauspieler und Musiker auf der Bühne. Heute ist er einer der bekanntesten Roma-Autoren im deutschsprachigen Raum.

1999, während des Jugoslawienkrieges, emigrierte Nikolić zunächst nach Berlin und dann nach Köln. Gegangen sei er aus Prinzip, wie der sonst so freundliche Mann grimmig sagt. Seine alte Heimat hat er seither nicht mehr besucht.

Wissen über Roma auch für Pädagogen wichtig

Sein Leben ist jetzt in Deutschland, in Köln, wo er versucht, Kindern - wie er es nennt - „eine Legitimation zu verleihen“. Die drei Lehrer, die sich bei Amaro Kher zwei Planstellen teilen, unterstützen ihn dabei, den zum Teil nicht alphabetisierten Schülern die Inhalte so zu vermitteln, dass sie in deren kognitive Welt passen. „Zigeunerkinder haben beispielsweise ein ganz anderes Zeitgefühl – sie denken nicht in Stunden, sondern in den Kategorien Heute und Morgen“, erklärt er. Pünktliches Erscheinen zum Unterricht oder das Einhalten von Vereinbarungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg getroffen wurden, ist deshalb nicht selbstverständlich.

Um auch andere Pädagogen außerhalb des Schulprojekts Amaro Kher mit der Welt der Romakinder vertraut zu machen, wird Jovan Nikolić seinen dunkelgrünen Koffer demnächst auch für interessierte Kölner Schulklassen, fortbildungswillige Lehrer und in Volkshochschulen aufklappen. Konkrete Anfragen für die „Kulturkarawane“ gibt es schon.

Mer auf Kulturama: Kleine Schritte zum Erfolg: Kölner Schulprojekt für Romakinder Amaro Kher


Details zu Jovan Nikolić sowie Leseproben: www.jovannikolic.de
Schulprojekt Amaro Kher: www.amaro-kher.de

Dieser Text ist dank einer Förderung der Allianz Kulturstiftung entstanden.


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