Russland

„Ich jongliere nicht mit dem Zuschauer“

Moskau (n-ost) - Das beste ausländische Gastspiel auf Moskaus Bühnen kommt aus Deutschland: Für seine Inszenierung der „Emilia Galotti“ erhielt Michael Thalheimer beim wichtigsten russischen Theaterfestival als Hauptpreis die „Goldene Maske“. Thalheimer – „Regisseur des Jahres“ 2001 – arbeitet seit vergangenem Sommer als Leitender Regisseur am Deutschen Theater in Berlin. Carmen Eller sprach mit ihm über die Sehnsucht nach Werten, Spektakel für den Gemüsehändler und die Seelenverwandtschaft mit dem Filmemacher Wong Kar-Wai.

FRAGE: Für Ihre „Emilia Galotti“ haben Sie den wichtigsten russischen Kritikerpreis für das beste ausländische Gastspiel erhalten. Wie erklären Sie sich den Erfolg in Russland?

Thalheimer: Es gibt gewisse Dinge in meinem Theaterleben, die ich gar nicht erklären möchte. Tatsächlich ist es mit „Emilia Galotti“ so, dass wir sehr viele ausländische Gastspiele haben, auch auf verschiedenen Kontinenten. Bisher hat das Stück überall von den Zuschauern begeistert aufgenommen. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass wir eine Art universelle Sprache entdeckt haben, dass die Geschichte nicht nur über die deutsche Sprache verständlich wird, sondern auch über viele andere Sinne, über die Emotionalität, über die Ausdrucksstärke der Schauspieler, über die Musik.

FRAGE: In Lessings Stück opfern die Figuren ihr persönliches Glück gesellschaftlichen Konventionen. Ist das noch ein aktueller Stoff?

Thalheimer: Wenn man das nur so betrachtet, ist das wahrscheinlich kein aktueller Stoff, obwohl ich glaube, dass wir nach wie vor in gesellschaftlichen Zwängen leben. Die Selbstverwirklichung, die ja immer postuliert wird, findet in dem Sinne gar nicht statt. Auch nicht in der westlichen kapitalistischen Welt. Darüber hinaus ging es uns nicht nur um gesellschaftliche Konventionen, sondern tatsächlich um jedes einzelne Weltbild der Figuren außerhalb von Emilia Galotti. Auffällig ist, dass es meistens sehr doppelbödige Weltbilder sind. Der einzige Mensch, der in diesem Stück einen Glauben besitzt, dass das Leben auch anders sein könnte, ist eben Emilia Galotti. Sie ist zum Scheitern verurteilt, weil die Gesellschaft es nicht zulässt, dass jemand seinem freien Willen folgt, und das haben wir heute noch genauso.

FRAGE: Was hat Sie ganz persönlich an dem Stoff „Emilia Galotti“ gereizt?

Thalheimer: Dieses Stück ist eine unglaubliche Partitur von Lessing. Es ist heiß und kalt zugleich. Heiß, weil es anscheinend um Liebe geht, und kalt, weil die Mechanik des Stückes zwangsläufig in eine Katastrophe führt, die eiskalt aufgebaut ist von Lessing, fast ohne Gefühle. Dagegen immer die großen Sehnsüchte und diese große Liebe von Emilia Galotti. Das hat mich hochgradig gereizt. Außerdem auch das unglaubliche Tempo des Stücks, dass es innerhalb von einem Tag von einem glückseligen Zustand, man ist kurz vor einer Hochzeit, zur absolut düsteren Katastrophe kommt.

FRAGE: Wie übersetzt man Lessings Stück in die Gegenwart?

Thalheimer: Ich glaube, wir haben es in „Emilia Galotti“ mit Menschen zu tun, deren Weltbilder, mit Ausnahme der Titelfigur, nur noch durch die Sprache existieren. Sie besitzen keine Werte mehr im eigentlichen Sinne, sie behaupten sie nur noch sprachlich. Ich denke, wir im Abendland leben in einer Gesellschaft, die geprägt ist durch den absoluten Werteverlust. Ich glaube, es gibt eine Sehnsucht nach Werten, nach Glauben, nach etwas außerhalb von uns selbst, was uns sagt, was gut und böse ist. Wir haben viele Werte und Tugenden über Bord geworfen. Wir stellen das Ich ins Zentrum, Selbstverwirklichung als höchste Tugend, und ich möchte mal daran zweifeln, dass das die höchste Tugend sein kann.

FRAGE: Wo sehen Sie die Alternativen?

Thalheimer: Darüber möchte ich mich in einem Interview nicht äußern, weil ich einerseits finde, dass jeder seine privaten Träume hat und ich andererseits auch Theaterregisseur bleibe. Ich will Dinge aufzeigen, wie ich sie empfinde, wie ich sie beobachte, vielleicht wie eine Art Seismograf innerhalb einer Gesellschaft, aber ich fühle mich nicht berechtigt, Lösungsvorschläge zu entäußern. Ich bin kein Philosoph, ich bin kein Moralist und ich bin auch kein Pfarrer.

FRAGE: Die Musik für „Emilia Galotti“ geht auf ein Motiv aus dem Film „In the Mood for Love“ des Regisseurs Wong Kar-Wai zurück. Wie kam es zu dieser Wahl?

Ich habe in einer Sommerpause diese Musik in einer Bar gehört. Sofort habe ich verstanden: Das ist meine Musik für diese Geschichte. Ich habe diese Musik dann meinem Komponisten Bert Wrede gegeben, der sie bearbeitet hat. Den Film habe ich erst drei Wochen nach der Premiere gesehen und war selbst überrascht. Wong Kar-Wai halte ich für einen ganz großen Künstler und möchte mich mit ihm überhaupt nicht vergleichen, aber ich war trotzdem froh über so eine Art von Seelenverwandtschaft. Die Zeitlupen, die langen Gänge und die thematischen Parallelen. Er erzählt auch über einen Versuch von Liebe, der scheitert. Dass wir zeitgleich in Tausend Kilometer Entfernung an etwas ganz Ähnlichem gearbeitet haben, fand ich elektrisierend.

FRAGE: Sie inszenieren ohne Requisiten. Was sagen Sie Menschen, die mit ratlosem Gesicht aus dem Theater kommen, weil sie ihren Klassiker nicht so vorfanden, wie sie es sich erhofft hatten?

Thalheimer: Kein Regisseur ist dazu da, um für einen Zuschauer die erhoffte Inszenierung auf die Bühne zu bringen. Jede Generation hat die Berechtigung, die Klassiker für sich neu zu interpretieren und neu zu entdecken. Nur dann bleiben sie lebendig. Diese Leute meinen immer, wir machen etwas kaputt. Den Text gibt es in Buchform, das kann man keinem nehmen. Nur: Wenn er nur in einem Bücherregal steht, bleibt er tote Literatur. Er ist für das Theater geschrieben und das heißt, jede Generation muss sich damit auseinander setzen, und auch jede Generation der Zuschauer. Auseinandersetzung bedingt, dass es nicht jedem gefällt und ich habe auch gar nicht den Anspruch, jedem zu gefallen.

FRAGE: Manche Kritiker meinten, Ihre „Emilia Galotti“ sei eher Film als Theater.

Thalheimer: Da soll mir der Kritiker erst einmal beschreiben, was Theater eigentlich ist. Für mich ist Theater sehr vieles und vor allem ein Ort in der Gesellschaft, an dem nicht nur gespielt wird, sondern mit dem Zuschauer eine Auseinandersetzung stattfindet, ein Diskurs live an einem öffentlichen Ort. Das ist das Spannende am Theater. Wenn es ernsthaft betrieben wird, ist im Theater alles möglich.
Ich glaube, auch der Zuschauer, der irritiert ist bei meinen Inszenierungen, wird spüren, dass meine Arbeiten zynismusfrei sind. Ich jongliere nicht mit dem Zuschauer. Ich mache mir keinen Spaß oder versuche Zuschauer zu provozieren auf die plumpste Art und Weise. Theater ist für mich eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung.

FRAGE: Die russische Theaterkritikerin Marina Dawidowa schrieb, das russische Theater habe den Bezug zur Wirklichkeit verloren, das deutschsprachige Theater stünde dagegen in seiner Blüte, weil es so konkret sei. Können Sie dem zustimmen?

Thalheimer: Ich habe mir zwei russischsprachige Aufführungen angeschaut und nur aufgrund dieser Erfahrung kann ich das bestätigen. Ich empfinde, dass das russische Theater auf der Suche ist, deshalb ist es nicht langweilig. Ein Stück, das ich gesehen habe, war ein Epos über den Zweiten Weltkrieg, eine sehr lange komplizierte Geschichte. Letztlich habe ich mich gefragt: Was erzählt das über das Hier und Jetzt in Russland? Ich will da niemandem zu nahe treten, aber ich habe mir die Frage gestellt: Interessiert das den russischen Zuschauer wirklich noch, die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Gibt es heute nicht andere Themen in der russischen Gesellschaft? Ich finde, man sollte die radikalen zeitgenössischen und auch schmutzigen Themen mit aller Vehemenz auf die Bühne bringen, um das Theater lebendig zu halten.

FRAGE: Haben Sie das auch selbst vor, in Zukunft zeitgenössische Autoren zu inszenieren?

Thalheimer: Das hängt nicht unbedingt mit den Autoren zusammen, sondern wie man mit bestimmten Texten und Stoffen umgeht, um die Zeitgenossenschaft dieser Texte deutlich spürbar zu machen.

FRAGE: Gibt es keine Autoren, die Sie reizen, die im Hier und Jetzt schreiben?

Thalheimer: Da bin ich in Deutschland auf der Suche, kenne auch viele Autoren persönlich. Ich werde in den nächsten zwei, drei Jahren auch zeitgenössische Stücke inszenieren. Welche, kann ich noch nicht verraten.

FRAGE: Haben Sie für sich selbst den Anspruch, mit Ihrem Theater auch, sagen wir mal, den Gemüsehändler zu erreichen?

Thalheimer: Natürlich habe ich das Interesse, möglichst viele Menschen zu erreichen, aber inwieweit das Theater das schaffen kann, bleibt eine Frage. Theater ist eine Art von Kunst und sie bleibt elitär. Das bedauere ich manchmal, aber das ist der Roman übrigens auch, weil der Gemüsehändler vielleicht genauso diese Schwellenangst hat, eine Buchhandlung oder eine Galerie zu betreten. Da hat der bildende Künstler natürlich auch dieses Problem, einerseits diese Lust, andere Menschen zu erreichen, und andererseits das Bewusstsein, dass alle diese Institutionen und die Kunst an sich elitär bleiben. Das werden wir nicht ändern. Das war vielleicht auch schon immer so.

FRAGE: Aber was ist mit William Shakespeare? Sein Theater war ein Massenspektakel, in das auch Menschen aus dem einfachen Volk strömten.

Thalheimer: Das ist nicht mein Anspruch. Wissen Sie, in der Shakespeare-Zeit im Globe Theater, klar wurde da Bier getrunken, Wurst gegessen und reingegrölt. Aber das kann ich mir in meinem Theater nicht vorstellen. Und Sie dürfen eines nicht vergessen: In dieser Zeit gab es kein Kino, kein Fernsehen, kein Radio. Das ist natürlich ein Glücksfall für das Theater, gleichzeitig die Zeitung, das Radio und das Fernsehen sein zu können. Das können wir nicht mehr zurückholen.

FRAGE: Da hat es ein Filmemacher wie Wong Kar-Wai einfacher. Das Kino ist ein Ort, bei dem es keine Berührungsängste gibt.

Thalheimer: Mag sein, aber das kann ja auch ein Vorteil sein, so eine Schwelle zu betreten. Wir haben ja nach wie vor in Deutschland jährlich mehr Live-Zuschauer als die Fußballbundesliga. Das ist schon ein deutliches Zeichen und nichts gegen Fußball, ich gehe da auch hin.


Zur Person

Michael Thalheimer wurde 1965 bei Frankfurt am Main geboren und studierte ab 1985 Schauspiel in Bern. Nachdem er lange als Schauspieler aktiv war, zeigte er 1997 in Chemnitz seine erste Inszenierung: Fernando Arrabals „Der Architekt und der Kaiser von Assyrien“. 2001 wurde Thalheimer von der Zeitschrift „Theater heute“ zum „Regisseur des Jahres“ gewählt. Seit dem Sommer 2005 ist er Leitender Regisseur und Mitglied der Künstlerischen Leitung des Deutschen Theater Berlin.

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Carmen Eller


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