Russland

Chruschtschows Geheimrede am 25. Februar 1956

Moskau (n-ost) - Vom 14. bis zum 25. Februar 1956 hielt in Moskau die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ihren 20. Parteitag ab. An seinem Beginn und an seinem Ende standen zwei Reden, die die Wirkung eines Sprengsatzes entfalteten, der die kommunistische Welt erschüttern ließ. In beiden Reden ging es um Stalins Herrschaft, und was dabei gesagt wurde, zwang den medizinischen Notdienst, der bei dieser größten Veranstaltung der sowjetischen Millionenpartei natürlich präsent war, zu Schwerstarbeit: Dutzendfach mussten Sanitäter und Ärzte denjenigen der 1355 Delegierten beistehen, deren Herz oder Hirn bei dem radikalen Denkmalssturz des einstigen „Gottes“ Stalin zu streiken drohten.
Dass etwas „in der Luft lag“, merkten die Delegierten bereits bei ihrem Eintreffen: An der Stirnwand des Kongresssaales hing kein Bild von Stalin. Das war ungewöhn¬lich, musste aber noch nichts bedeuten: Seit Stalins Tod am 5. März 1953 hatte eine vorsichtige Lockerung eingesetzt. Damit hätte es Nikita Chruschtschow (1894-1971), seit 1953 neuer Parteichef der KPdSU, gerne bewenden lassen.

Andere aber verlangten radikalere Änderungen, allen voran Anastas Mikojan (1895-1978). Mikojan, seit 1935 Mitglied im Politbüro der KPdSU, hatte Stalin in vielen Funktionen treu gedient, in dem Machtkampf nach dessen Tod aber Chruschtschow unterstützt. Kurz vor dem Parteitag hatte er diesen bestürmt, ein klares Wort über die „Verbrechen Stalins“ zu sprechen. Dieser Vorschlag löste im Politbüro nur Entsetzen aus.
Mikojan entschloss sich zur Flucht nach vorn. Bereits am Eröffnungstag ergriff er das Wort zu einer „unerwarteten“ Rede, in welcher der Name Stalin nur ein einziges Mal vorkam, dessen „Verbrechen, Irrtümer, Fehler und Machtmissbrauch“ aber breiten Raum einnahmen. Mikojan hatte hastig gesprochen, mit überschlagender Stimme – als habe er Angst gehabt, „nicht alles sagen zu können, was er sagen wollte“. So berichteten es später Parteitagsdelegierte. Im Saal herrschte während der Rede entsetztes Schweigen, nach ihr große Aufregung – in Gruppen stand man beisammen, besprach das soeben Gehörte.

Die Parteiführung, ebenso überrascht wie der restliche Parteitag, zog sich zurück, um die Lage zu besprechen. Nach langen und lautstarken Debatten beschloss man, Chruschtschow solle zum selben Thema sprechen –„ganz am Ende, auf der letzten Parteitagssitzung.“ Mehr noch: Die Sitzung solle „geschlossen“ verlaufen, die Rede „geheim“ bleiben, keine Diskussion über sie zugelassen werden.

Am 25. Februar schlug dann Chruschtschows Stunde. Er verlas ein 42-seitiges Manuskript „Über den Personenkult und seine Folgen“. „Personenkult“ war nur ein anderes Wort für Stalins Gewaltherrschaft, die nach späteren Berechnungen des Stalin-Biographen Boris Souvarine 100 Millionen direkte und indirekte Opfer gefordert hatte.

Chruschtschow sprach lange über Stalins Eitelkeit, seine Unbildung, seine Stümpereien als Wirtschaftsplaner und vor allem über den blutigen Terror, mit dem Stalin das ganze Land überzogen hatte. Der Redner verlas Briefe, die alt gediente Parteimitglieder aus den Folterkellern der Geheimpolizei vergeblich an Stalin geschickt hatten, er forderte im Saal sitzende Politiker, Generäle und andere auf, „die Wahrheit über Stalin“ zu sagen.
Die Rede wurde eine Sensation, obwohl sich die KPdSU größte Mühe gab, sie vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Doch Titos Kommunisten in Jugoslawien, die als einzige noch zu dessen Lebzeiten mit Stalin gebrochen hatten, konnten sich den vollen Text beschaffen und veröffentlichten ihn mit deutlicher Genugtuung. Im Juni zogen die Amerikaner nach und von da ab kannte den Text die ganze Welt.

In den kommunistischen Satellitenstaaten gab es einige politische „Bauernopfer“: In Bulgarien musste Vylko Tscherwenkow, in Ungarn Ernö Gerö gehen. Einige Regimegegner wurden rehabilitiert: In Polen wurde Wladyslaw Gomulka in höchste Ämter zurückgeholt, in der Slowakei konnte der Dichter Laco Novomesky, einer der Führer des slowakischen Nationalaufstands von 1944, das Gefängnis verlassen, in Budapest durfte der Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukacs nach langen Verbotsjahren erstmals wieder publizieren.

Am wenigsten passierte in der DDR. Walter Ulbricht (1893-1973), einer der treuesten Anhänger des Stalinismus, schaffte es auf wundersame Weise, den Schock von Moskau in seinen Triumph zu verwandeln. Ulbricht war zum 20. Parteitag in Moskau, durfte bei Chruschtschows Rede jedoch nicht im Plenum zuhören. Um 3 Uhr morgens wurden er und sein Gefolge aus dem Schlaf geholt und von einem „sowjetischen Genossen“ informiert. Wieder daheim, schrieb Ulbricht im „Neuen Deutschland“, was fortan zu gelten habe: Stalin war ein schwacher Theoretiker, ein eitler „Selbstbeweihräucherer“, einer der „dem Sowjetstaat bedeutende Schäden“ zugefügt hat, ergo: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen“. Als im März 1956 der volle Text der Chruschtschow-Rede in westlichen Blättern veröffentlicht wurde, gab Ulbricht sogar Chruschtschow telegraphische Regieanweisungen: „Ich schlage vor, dass in einem Leitartikel der Prawda zu einigen Fragen Stellung genommen wird“. Der Altstalinist Ulbricht stellte sich für kurze Zeit an die Spitze der Entstalinisierung und manipuliert diese so, dass am Ende seine Position enorm gefestigt und seine innerparteilichen Gegner wie Schirdewan, Wollweber und Harich auf der Strecke blieben.

In anderen Ländern zeigte die Entstalinisierung weit größere Folgen: Im polnischen Posen wagten streikende Arbeiter im Juni 1956 eine Kraftprobe mit dem Regime. 53 Menschen kamen dabei ums Leben. Und in Ungarn begann am 23. Oktober 1956 ein Volksaufstand, der bis zum 4. November durch russische Panzer blutig niedergeschlagen wurde.

50 Jahre nach den Ereignissen sind zwar die Stalindenkmäler nahezu überall in Osteuropa abgebaut, eingeschmolzen oder in Museen entsorgt worden, doch insbesondere in Russland ist eine Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus noch immer nicht erfolgt. Fjodor Burlazkij, 1956 Redakteur der Zeitschrift „Kommunist“ und Mitarbeiter Chruschtschows prangerte dieser Tage in der Nezavisimaja Gazeta (Unabhängige Zeitung) die in Russland um sich greifende Verklärung der Stalin-Ära an: „Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass die Hälfte der Befragten die Rolle Stalins positiv bewerten. Er ist vor allem Sieger im Weltkrieg, dann der Organisator der Kernwaffen und Raketen, schließlich der Schöpfer eines großen Imperiums.“

Ende


Name des Autors Wolf Oschlies:


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