Boris Jelzin: „Gott konnte sehen, dass meine Absichten rein waren…“
„Zar, Gott und Oberbefehlshaber“ sei er, lästerten die Russen, als Boris Jelzin fast die ganzen 1990er Jahre über als erstes demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt Russlands amtierte. Am 1. Februar 1931 kam er in Swerdlowsk, vormals und inzwischen wieder Jekaterinburg, zur Welt. 75 Jahre später erhielt er sozusagen die kirchliche Bestätigung seiner Außergewöhnlichkeit: Am Morgen klopfte Aleksij II., „Patriarch von Moskau und Gesamt-Russland“, an die Tür von Jelzins 500 Quadratmeter großen Moskauer Wohnung, um den Jubilar mit dem Dmitrij-Donskoj-Orden zu dekorieren. Den hat die Russische Orthodoxe Kirche 2004 gestiftet – zur Erinnerung an den Sieg des Moskauer Großfürsten Dmitrij Donskoj, der 1380 die Mongolen schlug und den Aufstieg Moskaus zur Führung der vereinigten russischen Länder begründete. Die Auszeichnung geht an den „Verteidiger des Vaterlands“. Aber hat Jelzin wirklich so viel Ehre verdient?
Zumindest er selbst und die 250 Gäste seines Geburtstagsempfangs im Kreml sind davon überzeugt. Unter den Geladenen begrüßte Jelzin alte Freunde, etwa Ex-Präsident Bill Clinton, der ihm vor zehn Jahren ein Saxophon-Solo zum 65. spielte, und Ex-Kanzler Helmut Kohl. Dieser betonte in Bezug auf den Jubilar:„Wir stehen uns wirklich sehr nahe und treffen uns immer noch, obwohl wir beide nicht mehr im Amt sind.“
Um den Geburtstag herum waren die russischen Medien voller Interviews mit Jelzin. Dieser betonte unter anderem, dass Russland dank seiner Politik als achtes Mitglied zum Kreis der G7 gestoßen ist und dass die Russen mittlerweile die Früchte dieser Entwicklung ernten könnten: „Gott konnte sehen, dass meine Absichten rein waren.“ Sybillinisch äußerte sich der aktuelle Präsident Wladimir Putin: „Wie immer man die Jelzin-Ära auch bewerten mag, er hat uns wenigstens die Freiheit gebracht.“ Drastischer fällt das Urteil von Jurij Lushkow, Moskaus Oberbürgermeister, aus: „Ich sehe seine Zeit als eine für das Land verlorene Zeit an. Vieles hätte in der Wirtschaft und im Sozialen getan werden können, um die Massenverelendung und den Autoritätsverlust des Landes zu vermeiden, aber es wurde nichts getan.“
Solche harsche Kritik klingt wie ein Zitat aus Solshenizyns Buch „Rossija v obvale“ (Einstürzendes Russland), in welchem der Autor 1998 geradezu die Endzeit der Größe und Stärke Russlands konstatierte – von Gorbatschow blauäugig begonnen, von Jelzin leichtfertig vollendet. Solshenizyns vernichtendes Urteil war in vielen Teilaspekten gewiss zutreffend, doch sind sich viele Historiker darin einig, dass es von der 1970 einsetzenden Agonie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion keinen mühelosen Weg zu Demokratie, Marktwirtschaft und mittelständischem Unternehmer¬tum geben konnte.
Legendär wurde Jelzin durch seine schnelle Reaktion nach einem Putsch gegen den damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im August 1991 durch eine kommunistische Clique: Jelzin, damals russischer Präsident, entging knapp der Verhaftung, scharte im „Weißen Haus“, dem damaligen russischen Parlament, die Demokraten um sich und leistete beharrlichen Widerstand. In diesen Tagen stieg er auf einen Panzer und wurde zur Symbolfigur für das neue Russland. Große Teile der Armee scharten sich hinter ihm, sodass die Putschisten ihre Aktion abbrechen und Gorbatschow freilassen mussten. Geschickt nutzte Jelzin seinen Triumph, um die Kommunistische Partei zu verbieten und letztlich auch das Ende der Sowjetunion einzuläuten. Machtlos musste Gorbatschow dieser Entwicklung zusehen.
Doch die Hoffnungen der demokratischen Bewegung in Russland erfüllten sich nicht. Die Wirtschaft des Landes brach zusammen, weil Jelzin den Rat westlicher Berater folgte und den Rubelkurs auf hohem Niveau zu stabilisieren versuchte. Die russische Produktion war nicht mehr konkurrenzfähig, weite Teile der Bevölkerung verarmten, Löhne wurden über Monate nicht bezahlt. Reich wurde nur eine kleine Gruppe von Oligarchen, die die Privatisierung der Rohstoffindustrie geschickt für sich nutzten. 1993 ließ Jelzin dann entnervt das russische Parlament beschießen, das ihm 1991 noch Zuflucht gewährte, weil die Duma seinem Willen nicht folgen wollte. Dass Jelzin 1996 doch noch einmal die russischen Wahlen gewann, hatte er vor allem einigen Oligarchen und amerikanischen Wahlberatern zu verdanken, die eine millionenschwere Kampagne finanzierten, aus Angst vor einem kommunistischen Rückfall. Erst nach der großen russischen Finanzkrise 1997, die zu einer drastischen Abwertung des Rubel führte, gewann die russische Wirtschaft aufgrund nun niedrigerer Produktionskosten ihre Konkurrenzfähigkeit zurück und die wirtschaftliche Erholung setzte ein.
Nach einer aktuellen Umfrage des Moskauer „Levada-Zentrums“ bewerten nur neun Prozent der Russen Jelzins Regierungszeit positiv, 33 Prozent „neutral“, aber 55 Prozent „negativ oder absolut negativ“; 49 Prozent würden ihn noch heute gern vor Gericht stellen, 70 Prozent meinen, „dass es in der Jelzin-Epoche mehr Schlechtes als Gutes gab“.
Gerne zitiert werden dieser Tage kernige Sprüche aus Jelzins-Amtszeit, bisweilen vermutlich in nicht ganz nüchternem Zustand geäußert. „Ich lege meinen Kopf auf die Schienen, wenn es zu einem Preisanstieg kommt“, sagte der Präsident 1991, ließ seinen Worten aber dann keine Taten folgen, als die Preise geradezu explodierten. „Ich habe mich mit Kohl dreimal getroffen, so sieht echte Männerliebe aus“, betonte er 1997 seine Wertschätzung für den damals noch amtierenden deutschen Kanzler. „Ist russische Schokolade etwa schlechter als importierte? Oder russisches Bier? Vom Wodka will ich gar nicht erst reden.“ Auch dies ist ein Zitat von 1997 - Originalton eines Urtyps aus dem Ural.
„Es ist nicht leicht, Präsident Russlands zu sein – es ist vielmehr verdammt schwer und wird auch nicht leichter“, sagte Jelzin in einem Interview zu seinem Geburtstag. Und fügte hinzu: „Seit ich aus der Politik fort bin, werde ich laufend gesünder.“ In der Tat ist Jelzins derzeitiger Gesundheitszustand nach einer schwierigen Bypass-Operation Mitte der 90er Jahre und vielen Gerüchten über seine Alkoholabhängigkeit bemerkenswert.
Ende
Wolf Oschlies