Sibirier lässt der Frost kalt
Nowosibirsk (n-ost) - „30 oder 40 Grad – minus natürlich – kommen doch jeden Winter vor“, relativiert Alisa Melzer aus der sibirischen Hauptstadt Nowosibirsk das westliche Medienecho über die Kältewelle in Russland. Während in Moskau das Leben aus den Fugen gerät und sich Mitteleuropa vor dem „Klammergriff der Russenkälte“ ängstigt, bleiben die Sibirier ziemlich cool: „Ab minus 50 Grad ist es wirklich kalt“, meint Alisa Melzer.
Das Leben der 1,5 Millionen Nowosibirsker läuft ganz normal weiter, obwohl die Temperaturen schon seit Wochen nur zwischen 25 und 40 Grad minus liegen. Das Geheimnis liegt in einer guten Vorbereitung. Wer in seiner Wohnung noch keine neumodischen Plastikfenster besitzt, hat bereits im Herbst die alten Holzrahmen mit Watte abgedichtet und alle Ritzen mit Papier und Seifenwasser verklebt. Nur ein kleines Oberfenster bleibt stets unverklebt – zum Regulieren der Zimmertemperatur. Denn Heizungsventile gibt es nicht. Für kühlere Tage haben alle Sibirier zusätzlich elektrische Heizgeräte im Schrank versteckt. Und wenn es richtig kalt wird, kann man auch noch mit dem Gasherd heizen.
Freude bereitet das Wetter den Taxifahrern, die bei der Kälte besonders viel Kundschaft haben. Ruslan Zurawlew beispielsweise fährt in seinem Lada fast rund um die Uhr: Und wenn er schläft, greift er auf eine sibirische Erfindung zurück: „Der Motor meines Autos schaltet sich alle zwei Stunden automatisch an und heizt den Wagen kurz durch“, erläutert er. So wird verhindert, dass die Schmierstoffe, die Schläuche sowie die Batterie einfrieren. Eine andere Lösung des Problems bieten sibirische Parkplatzwächter: Nachts laufen sie regelmäßig von Auto zu Auto und starten die Heizungen für ein paar Minuten. Wegen des Frostes ist in Sibirien Diesel sehr unpopulär, der Treibstoff wird ab einer gewissen Temperatur zäh wie Kaugummi. Selbst Kleinlaster fahren deshalb mit Benzin oder Gas. Dieselfahrzeuge müssten stillgelegt werden oder ununterbrochen durchlaufen.
Auch das Eis auf den Straßen beeindruckt in Sibirien niemanden. Denn was in Deutschland streng verboten ist, gehört hier zur Standardausrüstung – Spikes. Kleine Metallstückchen im Gummi garantieren auch auf vereisten Straßen Halt. Selbst für Fahrradfahrer gibt es solche Bereifung – allerdings ist die Nachfrage eher gering, wie die Verkäufer im Sportgeschäft „Test Center“ berichten. Und sie erzählen auch warum: „Für den Preis dieser Fahrradmäntel bekommt man doch ein prima Snowboard!“
Wintersport ist populär in Nowosibirsk. Alle Parks sind kreuz und quer von Langlaufloipen durchzogen. Und es gibt auch mehrere kleine Abfahrtshänge im Stadtgebiet. Hier bringt der Frost jedoch eine Einschränkung mit sich: „Ab 25 Grad bleiben die Lifte abgeschaltet“, erläutert der technische Leiter Alexandr Krajew.
Ein anderes sehr beliebtes russisches Hobby, Eisangeln, ist auf technische Hilfe nicht angewiesen, sieht man einmal von den überdimensionalen Handbohrern ab, mit denen die Löcher ins Eis von Flüssen und Seen getrieben werden. Selbst bei zugigem Eiswind kauern auf dem Fluss Ob in Nowosibirsk einige Hartgesottene mit ihrer Angel über einer Lunka, dem Eisloch. Der Fang des Tages wird später auf dem Markt verkauft – natürlich unter freiem Himmel, direkt neben den beliebten Eiskiosken. Diese sind auch bei minus 40 Grad geöffnet. Denn nur weil es kalt ist, wollen viele Sibirier nicht auf ihr leckeres russisches Eis verzichten.
Auch Sibiriens Kinder sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Während Moskauer Schüler schon bei minus 25 Grad kältefrei bekommen, bleiben sibirische Kinder erst ab minus 30 Grad zu Hause. Doch auch nicht alle. Tatjana Sorina, Ingenieurin in Nowosibirsk, erzählt: „Am Samstag, bei 31 Grad, habe ich meine Tochter in die Schule gebracht, und es waren immerhin sieben Klassenkameraden da.“ An Werktagen kommen sogar meist alle Schüler, da die Eltern arbeiten gehen und die Kinder nicht alleine zu Hause sitzen wollen.
Um warm zur Arbeit und in die Schule zu kommen, muss man die Kunst des sibirischen Ankleidens beherrschen. Eingepackt in lange Unterwäsche, doppelte Hosen, einen dicken Mantel oder eine gepolsterte Winterjacke sowie mit einer typischen Pelzmütze wird es allenfalls an der Nasenspitze kühl. Jeder Nowosibirsker ist stolz auf ein russisches Sprichwort, welches besagt: „Ein Sibirier ist kein Mensch der nicht friert – ein Sibirier ist ein Mensch, der sich warm anzieht.“ Dank dieser Weisheit ist es für einen Spaziergang nie zu kalt, zum Beispiel zu den wunderschönen Schnee- und Eisskulpturen, die in allen sibirischen Städten die winterlichen Parks schmücken. Und wenn es draußen doch einmal etwas zu frisch geworden ist, begibt man sich in die erfahrenen Hände der Babuschka. Großmutters Himbeermarmelade und ein Lindenblütentee mit Honig vertreibt jede Erkältung – das hat sich seit Jahrhunderten bewährt.
Spätestens Ende April ist der Winter auch schon vorbei. Dank des Kontinentalklimas schließt sich direkt der heiße kurze Sommer an. So kann es passieren dass am Ob im Nowosibirsker Stadtstrand bereits die ersten Sonnenhungrigen bei 25 Grad im Sand liegen, während auf dem 20 Kilometer entfernten Stausee noch die letzten Fischer mit ihren Bohrern übers Eis balancieren.
ENDE
Norbert Schott