Auf einmal waren alle verschwunden
Moskau (n-ost) - Auf der Flucht vor der Roten Armee in den letzten Kriegstagen 1945 verloren viele Kinder in Ostpreußen ihre Eltern, die entweder von den Russen verschleppt wurden, starben oder ihre Kinder in den Wirren einfach vergaßen oder aus den Augen verloren. Diese Jungen und Mädchen waren sich selbst überlassen und mussten sich alleine durchschlagen. Wolfskinder werden sie bis heute genannt. Johannes Konrad ist eines von ihnen. Vier Jahre bettelte er in Litauen um Essen.
Ein Topf mit Buchweizengrütze stand noch auf dem Herd im engen Zimmer, auf dem Tisch lagen zwei Kartoffen, das Messer zum Schälen daneben. „Ich dachte, meine Mutter ist mit meiner Schwester Irmgard nur kurz hinausgegangen“, erinnert sich der damals 13-jährige Johannes Konrad an den 12. Juli 1946. Es war der Tag, als Johannes Konrad seine Familie verlor. „Ich setzte mich an den Tisch und schälte die zwei Kartoffeln“ erzählt der heute 73-Jährige. „Doch die Stille wurde immer bedrückender, immer schmerzender. Ich wusste irgendwie, dass meine Mutter und meine Schwester nicht mehr zur Tür hereinkommen würden“. Die Gewissheit brachte dann eine Nachbarin, die die Nebenkammer in dem Gesindehaus im ostpreußischen Aßlaken, dem heutigen russischen Klemewoe, bewohnte. „Jungche, sie haben die Mutter und die Irmi mitgenommen. Heute kommen die sicher nicht mehr zurück,“ sagte die Nachbarin und nahm den nun weinenden Johannes mit in ihre Kammer.
Die Mutter und die Irmi kamen jedoch auch in den nächsten Tagen und Monaten nicht zurück, Johann Konrads Vater, der schon auf der zu späten Flucht vor der Roten Armee im Januar 1945 von den Russen in den Osten verschleppt wurde, ebenfalls nicht. Es kam niemand mehr und auch die Nachbarin, die selbst vier Kinder durchbringen musste, schickt den Jungen fort. Damit wurde Johannes Konrad im September 1946 zu einem von schätzungsweise 10 000 so genannten Wolfskindern im Gebiet des ehemaligen Ostpreußens. Kinder, die ihre Eltern in den Kriegs-, und Nachkriegswirren verloren und sich alleine durchschlagen mussten. „Wir waren wie hungrige Wölfe. Wir schlichen nachts auf die Höfe, um nach Essen zu suchen. Tagsüber bettelten wir an den Türen. Deshalb nannten sie uns Wolfskinder“, erinnert sich Konrad mit Tränen in den Augen.
Ungefähr im Mai 1947 hörten die Wolfskinder, dass es den Bauern in Litauen besser ginge als denen im nun russischen Königsberger Gebiet. Johannes Konrad schlug sich mit ein paar anderen Jungs über die Memel nach Litauen durch. „Ich bin noch zweimal aus Litauen zurück nach Aßlaken gekommen, aber von meiner Familie gab es kein Lebenszeichen.“ Erst 1995 erfuhr Konrad, dass sein Vater in einem Gefangenenlager im Ural bereits Ende 1945 starb, von seiner Mutter weiß er bis heute nicht, wo sie hingebracht wurde und was mit ihr passiert ist.
Bis 1951 bettelte Johannes Konrad in Litauen um Essen, half Bauern auf dem Feld. „Geschlafen habe ich in Verschlägen im Wald – auf bloßer Erde.“ Er versucht, sich mit der Realität abzufinden und sich im neuen Leben einzurichten. Er erhält erst eine Aufenthaltserlaubnis für Litauen, später einen sowjetischen Pass. Mit einer Komsomolz-Brigade kommt er ins sibirische Jakutien, um den Sozialismus aufzubauen. „Ich war froh, das war doch jetzt mein Leben“, erzählt er.
1971 kommt Konrad aus Jakutien zurück, lässt sich in Moskau nieder, wo er bis heute lebt. Er schöpft noch einmal Hoffnung, seine jüngere Schwester Irmgard zu finden. Wieder schreibt er nach Deutschland. Erst 1996 erhält er Nachricht: Irmgard hat gelebt. Als die Russen Irmgard und die Mutter abholten, ging es nach Königsberg. Dort schickten sie Irmgard einfach weg. Sie kam zu einem russischen Bauern und dann irgendwie in ein Waisenhaus in die DDR. Irmgard heiratete in Leipzig, hatte drei Kinder und starb im Alter von nur 58 Jahren 1994 in Leipzig. Johannes Konrad reist 1998 nach Deutschland, besucht die Kinder seiner Schwester, steht an ihrem Grab. „Meine Nichten und Neffen waren gut zu mir, doch von der Geschichte ihrer Mutter, meiner Schwester, wussten sie nichts. Irmgard hat darüber wohl nicht gesprochen“. Warum hat Irmgard nicht nach ihm gesucht? Diese Frage beschäftigt Johannes Konrad bis heute: „Als Wolfskinder hätten wir doch das Rudel gebraucht.“
Hintergrund:
Wolfskinder- so bezeichnet man die durch die Kriegswirren elternlos gewordenen Kinder Ostpreußens, die durchs Land zogen und Unterkunft und Essen erbettelten. Viele sind verhungert, andere wurden zumeist von litauischen Familien aufgenommen und als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Wieviele Wolfskinder es gegeben hat, ist nicht genau bekannt. Schätzungen sprechen von bis zu 10 000. Genaue Angaben sind schwer zu machen, weil viele Wolfskinder russische oder litauische Namen angenommen haben, um nicht aufzufallen. Sie haben geheiratet und selbst Kinder bekommen. Manche wissen selbst nichts mehr über ihre Herkunft.
*** Ende ***
Tobias Zihn