Russland

In der Holzklasse russischer Eisenbahnwagons

Baumkronen wiegen sich im Wind. Zwei Amseln hüpfen über die sattgrüne Wiese. Zwischen den Bäumen erkennt man die grauen Wasser des Wannsees. Nur die Sonne fehlt an diesem Tag. Die Szenerie am Literarischen Colloquium Berlin, eine Institution, die sich seit 1963 für die Literatur engagiert, wirkt ansonsten sehr idyllisch, unverschämt idyllisch. Vor allem für jemanden, der aus Moskau kommt, dieser ruhelosen, ungestümen, wilden Stadt. „Ja, es ist sehr still hier“, sagt Natalja Kljutscharjowa, die eben in der russischen Hauptstadt lebt und arbeitet, als Journalistin und Schriftstellerin. Die 29-Jährige mit den weichen Gesichtszügen und den scharfen Gedanken schiebt noch ein „sehr still“ hinterher, so als traue sie der Idylle nicht wirklich. Gerade ist sie von einer Lesung in Göttingen in ihr zeitweiliges Domizil am Wannsee zurückgekehrt. Am liebsten, das verraten ihre kleinen Augen, würde sie jetzt wohl schlafen. „Das ist alles sehr spannend, aber auch anstrengend“, sagt sie. „Sobald ich hier am Wannsee bin, will ich nur schlafen.“ Jeden Tag liest Kljutscharjowa in einer anderen Stadt. In Berlin habe sie bis jetzt nur den Bahnhof gesehen, sagt sie. Aber bald habe sie eine Woche Zeit, sich in der deutschen Hauptstadt umzuschauen.

Man darf sich nicht täuschen lassen. Diese Frau, die so herzlich, so sympathisch, so offenherzig und, ja, sogar etwas weich wirkt, ist eine mutige Schreiberin mit Haltung und Biss. Als sie ein paar Tage zuvor auf der Bühne im Roten Salon der Berliner Volksbühne saß und die materialistische Haltung ihrer Landsleute kritisierte, den Autokratismus in der russischen Politik erklärte oder von der Zensur im russischen Fernsehen berichtete, war man gar überrascht, mit welch sanfter Stimme und mit welch zielgerichteter Selbstverständlichkeit sie das tat. Kljutscharjowa ist keine bärbeißige Anklägerin, sondern eher eine gefühlige Beschreibende des russischen Lebens, das für den Westler nach wie vor alles andere als leicht zu verstehen ist. „Ich bin da eher Traditionalistin“, sagt Kljutscharjowa. „Ich versuche die Menschen mit meinen Geschichten zu berühren.“ Ihr Roman „Endstation Russland“ ist gerade bei Suhrkamp erschienen, ein Buch, das bereits 2006 in der russischen Literaturzeitschrift Novyj Mir veröffentlicht und von der dortigen Kritik und dem Publikum gefeiert wurde. Mittlerweile wurde das Buch in sechs Sprachen übersetzt. „Nach der Lektüre von Kljutscharjowas Roman stelle ich mir noch eine weitere Frage“, schreibt die bekannte belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch. „Warum? Warum verändert sich seit Jahrhunderten nichts? Wozu steigen die Menschen in die Hölle hinab, wenn sie von dort mit leeren Händen zurückkehren? Sie träumen vom Glück, sogar vom Glück aller, aber das simple normale Leben funktioniert nicht. Es scheint, als lebten sie nur, um sich im Eisenbahnwagen auszusprechen.“

Das Debüt der aus Perm stammenden Autorin erzählt von dem gutmütigen, hochsensiblen Studenten Nikita, der mit der Eisenbahn kreuz und quer durch seine Heimat reist, um Russland begreifen zu lernen. Dabei trifft Nikita, der an Fürst Myschkin, die Hauptfigur aus Dostojevskis „Der Idiot“, erinnert, auf Wanderphilosophen, zynische Tschetschenien-Veteranen, verarmte Großmütterchen oder triste Orte, die vom Staat und der Gesellschaft aufgegeben wurden. Es ist eine sehnsüchtige Reise durch das traurige Herz Russlands, eine Reise, die ein desolates Bild von dem osteuropäischen Riesenreich zeichnet. In einer klaren, direkten Sprache, die an Kljutscharjowas journalistische Wurzeln erinnert. Dies ist vielleicht auch das Manko des Buches. Sprachlich und literarisch fällt es eher konservativ und traditionell aus und wagt keine Experimente. Der Wert aber besteht darin, dass Kljutscharjowa eine wahrhaftige soziokulturelle Landschaft der Putin-Ära entwirft. Und dennoch liegt auch Hoffnung in dem Buch. Denn die Veränderungswilligen ziehen auf das Land, leben dort ihre Freiheit, entziehen sich dem Griff des Staates. Am Ende des Buches marschieren Tausende nach Moskau. „Die Föderation liegt im Sterben. Das Imperium steht auf tönernen Füßen“, ruft einer der Protagonisten.

Im Original heißt das Buch: „Rossija: Obsci Vagon“. „Obsi Vagon“ werden in Russland die billigsten Eisenbahnabteile bezeichnet, die Holzklasse, in der das gemeine Volk durch die russische und postsojwetische Welt reist. Bei einer Reise in dieser Klasse lernt man sicher Tausend Mal mehr über Russland als bei der Lektüre von politikwissenschaftlicher und historiographischer Fachliteratur. Es ist die Klasse, in der das russische Schicksal reist.

„Dieser Roman kam ganz zufällig zustande“, erklärt Kljutscharjowa. Als Journalistin für die Zeitschrift „Erster September“, die sich vor allem mit Bildungs- und Erziehungsthemen beschäftigt, ist sie oft unterwegs gewesen. Dabei hat sie viele Menschen getroffen, die ihr von ihrem Schicksal berichteten. Unglückliche Schicksale. „Das hat mich mit Verzweiflung und Scham erfüllt, dass unser Staat solche Leben hervorbringt.“ Ab einem bestimmten Zeitpunkt sei es ihr schwergefallen, die Geschichten zu verarbeiten und sie habe nach einem Weg gesucht. „Das war der Startpunkt des Buches“, sagt die Schriftstellerin. Zunächst habe sie einfach drauflos geschrieben. „Ohne darüber nachzudenken, warum und wofür.“ Alle Charaktere des Buches entsprechen Menschen, die sie auf ihren Reisen getroffen habe, sagt Kljutscharjowa. Nur der Hauptheld des Buches Nikita sei allein ihrer Fantasie entsprungen.

Wie Nikita glaubte auch die junge Kljutscharjowa, dass eine Revolution in Russland möglich sei. „Als ich noch 20 war, war das noch sehr aktuell für mich“, erklärt Kljutscharjowa. „Ich hatte die Illusion, man könne etwas auf radikalem Weg verändern. Dann wurde mir klar, dass dieser Mechanismus in Russland nicht funktioniert.“ Dann blickt sie hinaus auf den Wannsee, der glatt wie ein Spiegel ist. „Mit 20 habe ich noch an die Revolution geglaubt. Mein Roman ist für mich auch der Abschied von Jugendträumen, heute weiß ich, dass wir eine andere Veränderung brauchen, eine moralische Veränderung. Freiheit - das heißt bei uns: alles ist erlaubt, niemand begreift Freiheit als Verantwortung. Mit Freiheit können wir Russen überhaupt nicht umgehen.“ In einer Schweizer Zeitung schrieb sie kürzlich: „Die Krise der Verantwortung, von der ich bereits sprach, betrifft natürlich auch die Staatsmacht. Menschen, die in die führende Klasse hinauf streben, begreifen die Macht als Freipass, als ein ,Alles ist erlaubt“, als einen Garant für Ruhm und unbegrenzten Zugang zu Finanzströmen.“ Der Geisteszustand der postsowjetischen Gesellschaft ließe sich eben mit dem unübersetzbaren Ausdruck «chaljawa» definieren, schrieb sie, was so viel heiße wie „alles haben, ohne irgendetwas zu tun“. „Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmass ihres Diebstahls voneinander unterscheiden. Fernsehen, Werbung, Popmusik und Boulevardpresse (für die überwiegende Mehrheit die einzige Lektüre) hypnotisieren das Bewusstsein rund um die Uhr mit Beispielen schicken Lebens. Die Massenmedien reichen überall hin, darum sind die Menschen überall verblendet von der Gier nach Reichtum – in Moskau ebenso wie im entlegensten Dorf.

Kljutscharjowa ist im Vorland des Ural aufgewachsen. Journalistin wollte sie eigentlich schon in jungen Jahren werden. Deswegen sei sie auch nach Moskau gegangen. Denn nur dort könne man als schreibender Journalist existieren. In der Sowjetunion ging Kljutscharjowa zur Schule, in den Neunzigern der Jelzin-Ära studierte sie Journalismus und Literatur. Ein Jahrzehnt, das viele Russen mit politischem, wirtschaftlichem und moralischem Chaos assoziieren. „In diesem Jahrzehnt hat meine Generation das kritische Denken gelernt. Das unterscheidet uns von der Vorgängergeneration und der nachfolgenden Generation“, sagt Kljutscharjowa. „Es war ein Jahrzehnt der Freiheit, des Chaos und der Orientierungslosigkeit, ein einzigartiges Jahrzehnt, dem ich mein Leben zu verdanken habe.“ Unter Putin habe es dann einen ökonomischen Fortschritt gegeben. Aber einen deutlichen Rückschritt hinsichtlich der bürgerlichen Freiheiten. „Das wirklich Erschreckende aber“, sagt sie und presst ihre Hände zusammen, „Das Erschreckende aber ist, dass dies kaum jemand merkt. Niemandem scheinen diese Freiheiten zu fehlen.“

Ob dieser Nikita, der keine Abwehrmechanismen gegenüber dem fremden Glück hat, ein typischer Vertreter ihrer Generation sei? „Nein, nein“, ruft Kljutscharjowa und schüttelt ihren Kopf mit den kurzen blonden Haaren. „Meine Altersgenossen sind egoistisch, praktisch-pragmatisch orientiert, materialistisch und zynisch. Niemand liest mehr. Mein Buch hat eine Auflage von 3000 Exemplaren in Russland und in Deutschland eine Auflage von 5000 Exemplaren.“ Das sage doch alles! Mittlerweile ist die Müdigkeit aus ihren Augen verschwunden. Die funkeln und leuchten vor Lebendigkeit. „Als Schriftstellerin bin ich zwar nicht so eingegrenzt wie als Journalistin. Ich kann alles schreiben. Aber ich habe nicht die Hoffnung, dass ich irgendwas verändern kann. Weder mit dem Journalismus noch mit der Literatur.“ Es hat zu regnen begonnen. Kleine Tropfen zerspringen an den Fenstern. Warum aber schreibe sie dann? Warum die Unbequemlichkeiten? Warum der Kampf? Warum all die Sorgen? Kljutscharjowa fixiert den Blick auf den Tisch, der durch die schwere Holzverkleidung der Wände in ein dunkel-trübes Licht getaucht wird. Sie legt ihre Hände zusammen und sagt: „Ich kann einfach nicht anders.“


Endstation Russland, 187 Seiten, ist bei Suhrkamp erschienen.


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