Polen

„Die Ketten des Unrechts durchbrechen“

Warschau (n-ost) – Die Kameras haben diesen Mann, der da auf dem kalten Granit kniet, zu einem Denkmal eingefroren. Eine Schweigeminute, die nie mehr vergeht. Brandt, das Gesicht zur Maske erstarrt, die Hände vor dem Körper verschränkt, umringt von einer staunenden, ungläubigen Menschenmenge.

Von dem Bild geht eine seltsame Kraft aus. Noch nach 35 Jahren bringt es Menschen zum Weinen. Wie ein Gedicht ist es immer und immer wieder interpretiert worden. Doch selbst für den Verursacher dieser Szene blieb ein Rätsel zurück. Gedankenverloren hat man Willy Brandt am Abend dieses 7. Dezembers gesehen, innerlich nach einer Erklärung suchend. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last von vielen Millionen ermordeten Menschen tat ich, was viele Menschen tun, wenn ihnen die Sprache versagt“, erklärte er Jahre später. Für Brandts engste Vertraute, so überlieferte es ein Augenzeuge, habe der Anblick des Knienden wie ein Schock gewirkt.

Durfte Brandt knien? Durfte sich der Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland an diesem regennassen Warschauer Vormittag auf den kalten Granit vor dem Denkmal des Aufstandes der Juden des Warschauer Ghettos werfen? Durfte er sich und die Deutschen vor aller Welt derart erniedrigen? Eine Woche nach diesem 7. Dezember 1970 hebt der „Spiegel“ das Foto vom knienden Brandt auf den Titel und stellt den Deutschen exakt diese Frage: „Durfte Brandt knien?“

Die Umfrage trifft auf ein zerrissenes Land: Während 41 Prozent der Befragten die Geste für „angemessen“ halten, bezeichnen sie 48 Prozent als „übertrieben“. In einigen Leserbriefen wird der Kniefall so kommentiert: „Brandts Geknie vor dem Warschauer Judendenkmal ist der Witz des Jahres. Da kniet der deutsche Judas vor den Polen, der langsam aber sicher ganz Deutschland verkaufen wird.“ Von „Canossa-Gang“ ist die Rede, von „Verzichtspolitik“, vom „Ausverkauf deutscher Interessen“. Es gibt Morddrohungen.

Willy Brandt mutet seinem Volk viel zu: Unmittelbar nach der Kranzniederlegung unterschreibt er den Warschauer Vertrag, mit dem Westdeutschland die Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze akzeptiert. „Mit diesem Vertrag wird nichts verspielt, was nicht Hitler schon verspielt hat“, erklärt Brandt in seiner Tischrede. Am Abend desselben Tages wendet er sich in einer Fernsehansprache an die Deutschen: „Wir müssen die Ketten des Unrechts durchbrechen.“

Warschau ist eine Etappe des „Wandels durch Annäherung“, den Brandts sozial-liberale Koalition seit Oktober 1969 betreibt, um erste Brücken über den Eisernen Vorhang zu schlagen. Brandts zur Versöhnung ausgestreckte Hand wird, wenn auch zögerlich, ergriffen. In Warschau ist es der Premierminister Jozef Cyrankiewicz, ehemaliger Häftling Nr. 62933 des Konzentrationslagers Auschwitz. Über Brandt und den Kniefall sagte Cyrankiewicz: „Nur er hat das machen können“ - und meint damit den Widerstandskämpfer Brandt, der zwischen 1933 und 1945 vom norwegischen und schwedischen Exil aus und zeitweise im Berliner Untergrund Hitler bekämpfte und der frei von Schuld ist für die Verbrechen an Millionen Polen, Juden, Russen und all den anderen Völkern.

Brandt bittet an der Stelle um Vergebung, an der 400.000 Juden von der SS wie Vieh zusammengepfercht und ausgehungert wurden, um dann waggonweise ins KZ Treblinka zu Genickschuss und Vergasung abtransportiert zu werden. Mitten in der deutschen Hölle kniet Brandt nieder. Belastet von schrecklicher Vergangenheit und doch visionär in eine bessere Zukunft blickend. Es ist in all seiner Schwäche bis heute der stolzeste Augenblick deutscher Nachkriegsgeschichte.

Dass Brandt mit der Geste auch seine polnischen Gastgeber nachhaltig verstörte, wird oft übersehen. Der Besuch am Ghetto-Mahnmal wurde erst nach diplomatischem Ringen ins Besuchsprotokoll aufgenommen. Während das Foto des Kniefalls um die westliche Welt ging, wurde es von der kommunistischen Presse ignoriert. Nach Meinung vieler Polen hatte Brandt vor dem falschen Denkmal gekniet. Er erwies Juden und nicht Polen diese Ehre. Erst im März 1968 hatte es - auf Betreiben führender polnischer Kommunisten um den Innenminister Mieczyslaw Moczar aber mit unübersehbarer Unterstützung aus dem Volk - eine antisemitische Kampagne gegeben, die die meisten jüdischen Intellektuellen zur Auswanderung zwang. Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski nennt 1968 das„Jahr der Schande“, in dem sich von einem auf den anderen Tag gezeigt habe, „dass unser Antisemitismus noch immer gegenwärtig ist, lebendig und aggressiv.“

Am 7. Dezember jährt sich der Tag des Kniefalls von Warschau zum 35. Mal. Noch immer hat sich das Foto des knienden Brandt nicht abgenutzt, im Gegenteil: Mit jedem Tag scheint sich die Geschichte mehr und mehr auf dieses Bild zuzubewegen. Die Welt ist dem Visionär Brandt gefolgt. 13 Jahre nach seinem Tod ist der Kalte Krieg Vergangenheit, ist Deutschland vereinigt, leben Deutsche und Polen innerhalb der Europäischen Union. In Warschau gibt es unweit des Ghetto-Denkmals einen Willy-Brandt-Platz, auf ihm steht seit fünf Jahren ein Relief, das Brandts Kniefall verewigt. Oft liegen Blumen darunter.

Wichtiger noch: Schuld öffentlich zu bekennen, hat Schule gemacht, auch in Polen. Dort entschuldigte sich der damalige Staatspräsident Aleksander Kwasniewski im Juli 2001 in Jedwabne öffentlich für ein durch Polen begangenes Massaker an Juden und berief sich dabei auch auf Brandts Geste. Der regennasse Warschauer Vormittag vor 35 Jahren ist zum Erbe geworden, zum gemeinsamen deutschen, polnischen und jüdischen Erbe. „Brandt ist ein Leitstern“, resümiert der jüdische Historiker Michael Wolffsohn in seinem gerade erschienenen Buch „Denkmalsturz? Brandts Kniefall“ und bescheinigt der Geste von Warschau „moralisches Weltformat“.

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