Weißrussen hungern für ihre Rechte
Minsk (n-ost) - Während der ersten drei Tage darf man nur verdünnten Rotkohl-, Karotten- oder Apfel-Saft trinken, die nächsten zwei Tage dann richtigen Saft. Den Rest der Woche gibt es mit Wasser angerührten Haferbrei. Nachher darf man Milchbrei essen. Erst am zehnten Tag gibt es Hühnerbrühe.
Dies ist kein Diättipp, sondern die ärztliche Weisung, wie man aus einem Hungerstreik herauskommt und das eigene Verdauungssystem zu neuem Leben erweckt. Immer mehr Menschen greifen in Weißrussland auf den Hungerstreik als extremstes Mittel des passiven Widerstandes zurück. Es ist angesichts eines von staatlichen Weisungen abhängigen Rechtssystems eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, gegen das diktatorische System von Präsident Alexander Lukaschenko zu protestieren.
Zurzeit hungern in weißrussischen Gefängnissen drei Oppositionelle:
Sergej Skrebetz ist seit sechs Monaten inhaftiert. Der Oppositionspolitiker, früher Parlamentsabgeordneter und Geschäftsmann, soll als Direktor des Konzerns BelBabajewskij vom Staat Kredite erschwindelt, eine kriminelle Gruppierung gebildet und illegal gearbeitet haben. 2004 soll er als Abgeordneter versucht haben, einen Arbeitslosen zu überreden, einen Staatsanwalt mit 30 000 Dollar zu bestechen. Die Beschuldigungen gegen ihn seien konstruiert, erklärte Skrebetz. Mit dem Tag seiner Inhaftierung im Mai begann er zu hungern, um auf sein Schicksal aufmerksam zu machen. Nach 40 Tagen musste er den Streik abbrechen, begann aber Mitte September und Mitte November erneut zu hungern. Inzwischen hat ihn „amnesty international“ als politischen Häftling anerkannt.
Dies gilt auch für den Geschäftsmann Valerij Lewonewskij aus Grodno. Er verweigerte erstmals im Juni die Nahrungsaufnahme. Lewonewskij sitzt wegen eines Gedichtes ein, das laut Anklage die Würde des Staatspräsidenten verletzt habe. Lewonewskij ist aber kein Dichter, sondern Gewerkschaftsführer, der sich für die Rechte anderer einsetzt. Nach einer Unterbrechung begann auch Lewonewskij Mitte November einen erneuten Hungerstreik. Sein Anwalt Alexander Birilow erklärte, er protestiere damit gegen Provokationen der Gefängnisbehörden: „Lewonewskij sagte mir, seine Zelle sei durchsucht und ihm Familienbesuch verweigert worden", so Birilow.
Nikolaj Awtuchowitsch, Unternehmer aus Wolkowyssk an der Grenze zu Polen, soll mehr als eine Milliarde weißrussische Rubel (etwa 430.000 Euro) Steuern nicht gezahlt haben. Awtuchowitsch hungert bereits seit einem Monat. Mitte November entschieden sich fünf seiner Freunde ebenfalls zu hungern und ihn damit zu unterstützen. „Ich sehe keine Chance mehr, anders meine Empörung bezüglich des beispiellosen Vorgehens der Untersuchungsbehörden gegen Herrn Awtuchowitsch auszudrücken", schreibt Juri Leonow, ein Freund des Verhafteten.
Und dies sind längst nicht alle Hunger-Geschichten. Ende Mai hungerte eine Gruppe von Schülern in Schodino (50 Kilometer von Minsk). Die 15 Zehntklässler blieben zu Hause, weil sechs von ihnen von der Schule verwiesen worden waren. Vermutlicher Grund der Schulverweise: Die betroffenen Schüler gehörten der „falschen“ Jugendpartei an und trauten sich, eine eigene Meinung zu äußern. Fast zwölf Tage hungerten die Schüler, um ihr Recht auf Bildung einzuklagen. Das Motto des Hungersteiks war "Wir wollen lernen" – kein Aufruf zu Revolution oder gar zum Machtwechsel.
Seit Oktober kann die letzte verbliebene oppositionelle Zeitung „Narodnaja Wolja“ (Volkswille ) nicht mehr erscheinen. Die Druckerei weigert sich das Blatt zu drucken, alle Vertriebspartner kündigten ihre Zusammenarbeit auf. Noch sucht die Redaktion einen konventionellen Weg aus der Krise. Doch Jossif Sereditsch, Chefredakteur der Zeitung, schließt einen Hungerstreik der gesamten Redaktion als letztes Mittel nicht aus.
Nach Ansicht des weißrussischen Politologen Alexander Klasskowskij ist der Hungerstreik für die Regimegegner die letzte Möglichkeit, sich zu verteidigen. Medien, die ihnen eine Stimme geben könnten, seien ausgeschaltet, die Gerichte seien parteiisch. „Andere Mittel gegen die Willkür und die Eigenmächtigkeit des Staates gibt es nicht mehr", so Klasskowskij. Hungerstreiks seien eigentlich Akte der Hoffnungslosigkeit. Mit ihnen sei aber die allerletzte Hoffnung verbunden, dass die internationale Gemeinschaft von den Vorgängen erfährt. Verhungerte Gefangene – vor dieser Schande würden selbst die weißrussischen Behörden zurückschrecken.
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