„In Russland zählt man keine Zuschauer, sondern Geld.“
Alexej Popogrebski hat mit seinem Film „How I ended this summer" einen Riesenerfolg gelandet. Beim goEast-Festival in Wiesbaden erhielt der 37-Jährige im April 2010 zwei Preise, und auch auf der Berlinale hatte der Film zwei silberne Bären bekommen. Barbara Breuer sprach mit Alexej Popogrebski über die Auswirkungen des Erfolgs, die Situation junger Filmemacher in Russland und die Dreharbeiten am Nordpol.
Herr Popogrebski, bevor Sie Regisseur geworden sind, haben Sie Psychologie studiert. Warum?
Alexej Popogrebski: Mein Vater war Dramatiker und Drehbuchautor, studiert hatte er aber eigentlich Triebwerksingenieur. Vor seinem Tod 1992 haben wir nie darüber gesprochen, ob ich denselben Beruf ergreife wie er oder nicht. Psychologie fand ich schon lange vor meinem Abitur spannend und besuchte an der Moskauer Universität eine Art Psychologieklub, der sich an Schüler richtet. Zum Film bin ich dann eher zufällig gekommen. 1990 habe ich durch gemeinsame Freunde Boris Chlebnikow kennengelernt, der gerne Regisseur werden wollte. Die Gespräche mit ihm über das Filmemachen haben mein Interesse geweckt.
Inzwischen wurde viel über Ihren Film „How I ended this summer” philosophiert und geschrieben. Was bedeutet der Film für Sie?
Alexej Popogrebski: Für mich ist es ein Film über die Beziehung zwischen Mensch und Zeit. Ich hatte als 14-Jähriger die Tagebücher eines Forschers über die Eroberung des Nordpols gelesen. Die Männer blieben im Eis stecken und der Expeditionsleiter verkündete: „Wir werden ein weiteres Jahr hier verbringen.“ Sie befanden sich in der Mitte von Nirgendwo, es gab kein Radio und niemand konnte seine Familie informieren. Aus einem Jahr wurden drei Jahre. Es geht dort draußen um eine komplett andere Anordnung von Zeit als in den Städten. In der Arktis ist es im Sommer zwei Monate lang taghell und im Winter drei Monate lang stockfinster. In dem Film geht es um zwei Menschen. Der eine arbeitet schon seit neun Jahren in dieser Polarstation und ist ein Teil dieser anderen Zeit- und Raumwahrnehmung geworden. Der andere, ein junger Mann, kommt mit seiner städtischen Zeitauffassung als Praktikant in die Polarstation. Er will Abenteuer erleben. Diese unterschiedlichen Zeitauffassungen lassen sich nicht vereinen.
Wie haben Sie den Drehort gefunden?
Alexej Popogrebski: Ich habe einen Geografen von der Moskauer Staatsuniversität kontaktiert, der mir Aufnahmen von 20 unterschiedlichen Polarstationen gezeigt hat. Eine davon hatte es mir besonders angetan, eine geografische Station am nordöstlichsten Ende Russlands. 2007 bin ich mit dem Kameramann und dem Setdesigner dorthin gefahren, um Fotos zu machen und einen Eindruck zu gewinnen. Ich war sehr stolz, als ich mich dazu entschieden hatte, in dieser Station auf der Halbinsel Chukotka zu drehen. Aber als ich dem Hauptdarsteller Sergei Puskepalis auf der Karte gezeigt habe, wo er arbeiten soll, blieb sein Gesichtsausdruck unverändert und er sagte: „Ich bin ganz in der Nähe aufgewachsen“.
Und der zweite Schauspieler, Praktikanten-Darsteller Grigori Dobrygin?
Alexej Popogrebski: Ich hatte viele junge Männer gecastet und mir während dessen klar gemacht, dass der zweite Protagonist ein Student sein muss. Vorher hatte ich den Charakter als etwa 30-Jährigen angelegt. Ich verzweifelte langsam, weil wir zwar die Ausrüstung und die Lebensmittel hatten, uns aber eine Hälfte der Besetzung fehlte, eine sehr wichtige Hälfte. Einen Monat vor dem Drehstart habe ich Grigori Dobrygin getroffen, der damals im dritten Studienjahr an der russischen Theaterhochschule war. Ich erfuhr, dass er auf Kamtschatka geboren wurden, einer Nachbarinsel von Chukotka. Für ihn war es die erste Rolle in einem Kinofilm.
„How I ended this summer“ ist die Geschichte zwischen zwei Männern, einem jüngeren und einem älteren. Das ist dieselbe Konstellation wie in Ihrem Film „Koktebel“.
Alexej Popogrebski: Ja, und wie in meinem Film „Simple things“.
Was ist an diesen Männerbeziehungen so spannend?
Alexej Popogrebski: Ich weiß es auch nicht. Das sollen die Filmkritiker und -wissenschaftler erklären. Mir selbst ist das erst vor kurzem bewusst geworden. Mein nächster Film handelt aber von einem Mädchen.
Welche Rolle spielt die Natur in „How I ended this summer“?
Alexej Popogrebski: Die Natur spielt die dritte Hauptrolle. Es geht ja darum, was für einen unterschiedlichen Bezug Menschen zur Zeit und zur Natur haben. Es ist eine Dreieckskonstellation. Am Ende merkt der Junge, dass seine Vorstellungen und Absichten nicht in die Natur passen, während der ältere Mann, Sergej, fast schon ein Teil dieser Umgebung geworden ist.
Wie haben Sie die Dreharbeiten unter solchen Extrembedingungen gestaltet?
Alexej Popogrebski: Wir haben drei Monate in der Arktis verbracht und mussten uns als Filmteam darauf einlassen, die Dinge nicht vorzugeben, sondern uns der Natur zu fügen. Wir konnten keine genauen Ablaufpläne machen und haben uns bemüht, so viel wie möglich chronologisch zu drehen. Wenn man sich die beiden Darsteller am Anfang des Filmes und am Ende anschaut, dann haben sich die beiden physisch stark verändert. Das war beabsichtigt. Wir haben auf die Natur gehört und ich glaube, die Natur hat das gespürt und uns geleitet. Was die Geschichte betrifft, konnten wir 95 Prozent des Drehbuchs umsetzen. Aber Details und Nuancen wie die Moskitos, die den Verdruss und die Gereiztheit des Jungen noch gesteigert haben, sind einfach hinzugekommen. Der Eisbär stand zwar im Drehbuch, sollte aber eine Computersimulation werden. Aber als die Tage näher rückten, an denen wir die Szenen mit dem Bär drehen wollten, tauchten tatsächlich Eisbären auf. Unser Team war sehr mobil, und so hatten wir am Ende etwa 50 Minuten Eisbären-Material, aus dem wir das Beste auswählen konnten. Wir hatten beim Drehen zwar Glück, aber auch die richtige Einstellung zur Natur.
Wie viele Menschen in Russland haben Ihren Film gesehen?
Alexej Popogrebski: In Russland zählen wir keine Zuschauer, sondern Geld. Nach drei Wochen hat „How I ended this summer“ eine halbe Million Dollar eingespielt. Das ist sehr vielversprechend, und der Film läuft bei uns immer noch. Anders als viele andere kleine Produktionen, die mit zehn oder 15 Kopien starten, ist mein Film mit 105 Kopien an den Start gegangen – ein Rekord für den russischen Kunstfilm.
Wie steht das einheimische Kino zurzeit in Russland da?
Alexej Popogrebski: Wenn man sich die russischen Kinocharts anschaut, dann machen einheimische kommerzielle Filme etwa die Hälfte aus. Was Kunstfilme betrifft, gibt es meist keinen weitreichenden Verleih und die Zuschauer sind eher geneigt, diese Filme nicht anzuschauen. Ich hoffe, mit „How I ended this summer“ durchbrechen wir diese Situation. Das liegt auch an dem in Russland vielpublizierten Berlinale-Erfolg mit den silbernen Bären, die der Film dort bekommen hat. Außerdem haben wir uns sehr angestrengt, den Film weiträumig zu vertreiben.
Ist es für osteuropäische Filme schwieriger auf große Festivals zu gelangen als für westeuropäische?
Alexej Popogrebski: Ja. „How I ended this summer“ war der erste russische Film im Berlinale-Wettbewerb seit fünf Jahren und die erste russische Produktion in der Nachwendezeit überhaupt, der dort Preise gewonnen hat. Ich glaube, russische Werke waren vor zwanzig Jahren auf den Festivals begehrt. Jetzt liegen sie nicht mehr im Trend. „In“ sind gerade Produktionen aus Rumänien, dem Iran oder der Türkei. Festivalpräsenz hat wirklich viel mit Trends zu tun.
Wie ist die Finanzsituation für junge russische Filmemacher?
Alexej Popogrebski: Sie war bis 2008 ganz gut, es gab jährlich zwischen 20 und 30 Spielfilmdebüts. Die Regisseure aus meinem Jahrgang haben es geschafft, sehr stilvolle, ernsthafte Werke mit einer eigenen Handschrift zu drehen. Das war das Ergebnis einer Phase, in der fast jeder Film eine Förderung durch das Kulturministerium erhalten hat. Es gab aber auch viel Kritik an diesem bürokratischen Fördersystem. Was nichtkommerzielle Kunstfilme betrifft, wird es bald ein großes Vakuum geben. Denn 2009 gab es kein Geld, weil das Fördersystem neu strukturiert worden ist. Es wurden acht große Produktionsfirmen ausgewählt, die den Großteil des Fördergeldes erhalten. Unsere Produktionsfirma „Koktebel“, deren Filme und Regisseure vielfach preisgekrönt wurden und die inzwischen unter Filmfachleuten in ganz Russland bekannt ist, gehört nicht dazu. Leider kann ich mir nicht vorstellen, dass auch nur eine dieser großen Produktionsfirmen solche Filme unterstützen wird, wie wir sie drehen.
Ersetzt die ökonomische Zensur heute die ideologische Zensur?
Alexej Popogrebski: Das könnte passieren. Natürlich hat jeder Regisseur die Freiheit, mit europäischem Geld oder durch private Förderung jeden Film zu drehen, den er möchte. Aber bei „Koktebel-Films“ ist bisher beispielsweise erst ein Film, „Tale in the darkness“, ohne Fördergelder gedreht worden. Das Kulturministerium wollte den Film wegen seiner obszönen Sprache nicht fördern.
Was wünschen Sie dem russischen Film?
Alexej Popogrebski: Meine Generation ist jetzt über 30 Jahre alt und hat zwei bis drei Filme produziert. Wir haben unsere Werke international etwas bekannter gemacht. Jetzt wünsche ich mir, eine neue Generation von ausdrucksstarken russischen Regisseuren, die unsere Arbeit fortsetzt. Aber mit der neuen Fördersituation wird das wohl eher schwieriger.
Deutscher Filmstart steht in den Sternen:Die Verleihsituation für Kinofilme in Deutschland wird immer schwieriger. Die Verleiher achten immer stärker darauf, ob ein Film auch publikumswirksam ist. Auszeichnungen wie auf der Berlinale und auf dem goEast-Festival erhöhen die Aufmerksamkeit für einen Film bei den Verleihfirmen, trotzdem sind sie kein Garant dafür, dass eine Produktion es auf die Leinwände schafft. Ob „How I ended this summer“ regulär in die deutschen Lichtspielhäuser kommt, ist bis dato noch ungewiss. (Stand April 2010)