Historisches Abenteuerland am Meer
Stettin (n-ost) – Die Anwohner am Stadtrand von Stettin zucken mit den Schultern und zeigen dann unsicher Richtung Wald. Durch den führt ein sandiger Weg. Wegweiser? Fehlanzeige! Doch irgendwann taucht er auf einem Hügel unweit der Oder auf: ein wuchtiger Turm mit Steinkrone und antikem Säulenportal, angelehnt an das Grabmal Theoderichs in Ravenna. 1921 wurde der Stettiner Bismarckturm eingeweiht, er war der teuerste und mächtigste seiner Art. Im polnischen Szczecin geriet er nach 1945 in Vergessenheit. Der Eingang ist versiegelt, die Umgebung verwildert. Ein Schild mit der Aufschrift „Privatbesitz“ verscheucht neugierige Wanderer.
Geht es nach Dariusz Baranik, dann hat der Dornröschenschlaf des Bismarckturmes bald ein Ende. Der 31-jährige Stettiner verfolgt eine „Misja Gryf“. „Mission Greif“ - so heißt die zwölfteilige Fernsehserie, die der Reporter des regionalen staatlichen Fernsehsenders TVP3 derzeit vorbereitet. Der Greif ist das Wappentier der Region. Baranik geht es darum, vergessene historische Orte aufzuspüren. „In Westpommern haben wir die größte Zahl solcher spannenden Plätze, über die man fast nichts weiß. Ich möchte diese Plätze zurück ins Bewusstsein holen und Investoren für sie finden.“
Es sind allesamt Bauwerke aus deutscher Zeit, die sich auf der Liste des Reporters befinden: Historische Brücken, Herrensitze ostelbischer Junker, Festungsanlagen aus preußischer Zeit. Besonders fasziniert ist der Reporter von einem riesigen, über drei Stockwerke angelegten Luftschutzbunker unter dem Stettiner Hauptbahnhof und vom Gelände der ehemaligen Hydrierwerke Pölitz (Police) nördlich von Stettin. Wo einst aus Steinkohle synthetisches Benzin für Hitlers Krieg gewonnen und Zwangsarbeiter gequält wurden, stehen heute bizarre Ruinen. „Man sollte das Gelände nutzen und an die Geschichte erinnern“, fordert Baranik.
In der Verwaltung der Wojewodschaft in Stettin sieht man das Engagement des Reporters durchaus mit Wohlwollen. „Wir wissen, dass es wir eine Menge von Plätzen haben, die touristisch noch nicht genutzt werden“, sagt Pressesprecherin Katarzyna Nakielska-Pawluk. „Die Wahrheit ist: Wir haben nicht genug Geld für alles.“ Es gebe jedoch die Möglichkeit von Zuschüssen. Auch EU-Mittel seien denkbar. „Wichtig ist, dass die Initiative von unten kommt, etwa durch einen Verein.“
Und das geschieht immer öfter: In Swinemünde (Swinoujscie), der nördlich von Stettin gelegene Stadt an der Ostsee, haben Vereine in den vergangenen Jahren Teile der Hafenfestung aus preußischer Zeit wieder hergerichtet. In das ehemaligen Fort Engelsburg am linken Swine-Ufer ist eine Galerie eingezogen, im Fort Gerhard auf der gegenüberliegenden Seite können Touristen seit dem vergangenen Jahr für umgerechnet einen Euro eine „Militärschulung“ über sich ergehen lassen. „Bei uns gilt der preußische Drill“, brüllt der bärtige Kommandant unter seiner Pickelhaube hervor und lässt die Besucher strammstehen. Natürlich ist er waschechter Pole und führt mit viel Humor und historischer Sachkenntnis durch die Backsteingemäuer aus dem 19. Jahrhundert. Im Dunkeln geht es durch die Pulverkammer, über den Exerzierplatz und dann vorbei am Ziegenstall („unsere biologischen Waffen“) bis in die Kasematte des Kommandanten. Am Ende gibt es ein offizielles Diplom und eine original Schrotkugel.
Rund 40.000 Besucher hat der Mummenschanz angeblich bereits angelockt. Auf derartige Besuchermassen hofft auch Jozef Cieciel, der 2004 in der Ulica Wyspianskiego im Zentrum von Swinemünde einen Luftschutzraum aus dem Jahre 1942 in ein Museum für Regionalgeschichte verwandelt hat. „Vor dem Weltkrieg war das Leben hier besser als jetzt“, sagt er bewundernd und blickt auf eine Sammlung von Postkarten aus deutscher Zeit. Wer eine Ahnung davon bekommen will, durch welchen Wahnsinn diese Zeit zu Ende ging, kann zehn Kilometer weiter Richtung Lubin fahren. Direkt an der Straße steht ein Bunker der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, die hier im Zweiten Weltkrieg eine Außenstelle unterhielt. Eine selbstgebastelte Rakete weist auf eine von Hitlers „Wunderwaffen“ hin. Der junge Pächter des Bunkers hat sie geschäftstüchtig „V3“ genannt und eine kleine Ausstellung mit kopierten Schwarzweißfotos zusammengestellt, die für 1 Zloty (25 Cent) zu sehen ist. Ganz in der Nähe sind tatsächlich noch Reste einer Startrampe zu finden.
Polen als Erforscher deutscher Geschichte, kostümiert mit preußischen Pickelhauben – Belege für einen entkrampfteren Umgang miteinander. Bei den Recherchen für seine Fernsehserie kann sich Reporter Baranik auf eine Schar von jungen, polnischen Hobbyhistorikern stützen, die mit Macht die deutsche Geschichte ihrer Region erforschen, nachdem sie unter den Kommunisten 40 Jahre lang Tabu war. „Es ist die Suche nach einer eigenen Heimat, die nun das Zeitalter der Ideologien abgelöst hat“, diagnostiziert der Stettiner Historiker Kazimierz Woycicki. In Internetforen wie www.sedina.pl tauschen die Heimatforscher ihre Erkenntnisse aus. Wie populär das Thema ist, zeigt auch die größte lokale Tageszeitung „Kurier Szczecinski“, die mit der festen Rubrik „Podziemny Szczecin“ (Unterirdisches Stettin) die verschüttete Geschichte der Stadt freilegt. Im Zeitschriftenhandel und auf CD-Rom sind längst alte Fotos zur lückenlosen Dokumentationen des historischen Stettin erhältlich.
„Früher lebten hier die Deutschen, sie hatten tolle Spezialisten und haben tolle Architektur hinterlassen“, sagt Reporter Baranik anerkennend. Dass noch nicht alle Polen zu einem derart sportlichen Umgang mit der Geschichte fähig sind, lässt sich freilich ebenfalls in Stettin studieren. Mitten im Stadtzentrum wurde im Sommer 2005 ein Stein errichtet, im Gedenken an die Polen, die vor 60 Jahren hierher auf urslawische Erde zurückgekehrt seien. So als seien 900 Jahre deutsche Geschichte nur ein Irrtum gewesen. Mit seinen 31 Jahren hat Dariusz Baranik für diese Sichtweise freilich nur ein Kopfschütteln übrig. „Ich habe viele deutsche Freunde. Es ist kein Problem dass das hier deutsch war. Ich denke, wir sollten das auch als Teil unserer Kultur betrachten.“
Info: Kontakt zu Dariusz Baranik unter: dariusz.baranik@szn.tvp.pl
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