Der Spion, der auf der Pritsche schlief
Tallinn (n-ost) - Die finnischen Investoren staunten nicht schlecht, als sie ihren Neuerwerb, das Hotelhochhaus „Viru“ am Tallinner Altstadtrand, genauer inspizierten. Von einer 23. Etage war nämlich nie die Rede gewesen; und in den Bauplänen war auch von jener geheimnisvollen Tür keine Spur, vor der sie nun standen. Des Rätsels Lösung: Unter dem Dach des Gebäudes hatte der sowjetische Geheimdienst KGB eine Art Horch- und Lauschzentrale eingerichtet. Dort wurden Gesprächsmitschnitte aus dem ganzen Hotel gesammelt und weiter nach Moskau geleitet. Ihre Mitschriften hatten die roten Spione zwar mitgenommen und auch einige der Aufzeichnungsgeräte aus der Verankerung gerissen, aber ihre offenbar hastige Flucht und das zurückgelassene Chaos offenbart bis heute Details über den recht profanen Alltag der Lauscher vom Dienst.
Die auf dem Schreibtisch neben dem Siemens-Telefon zurückgelassene Lokalzeitung „Sowetskaja Estonia“ vom 23. Februar 1989 deutet auf den Zeitpunkt des KGB-Rückzugs aus seinem Hochhausversteck hin. Ein einzelner, zurückgelassener Stiefel wartet seither erfolglos auf seinen Besitzer; ein Telefon ohne Wählscheibe ermöglichte wohl den direkten Draht zum Führungsoffizier. Handschriftliche, registraturartige Einträge in eine vorgefertigte Tabelle zeigen auf, dass auch das Kundschafterwesen im Kern aus spröder Verwaltungstätigkeit bestand. Noch ernüchternder ist der Anblick einer metallgerahmten Pritsche an der nackten, weiß getünchten Wand, auf dem der Agent, des Lauschens müde, nach Stunden niedersank, wenn die letzten Gespräche verstummt waren. Das Spionagezimmer war offenbar rund um die Uhr besetzt.
„Keiner von denen war hier länger als einige Wochen“, weiß Hotelmanager Ahti Nigol, der interessierte Besucher ins einstige Geheimzimmer führt. Der häufige Belegschaftswechsel im Dachgeschoss verhinderte, dass sich die Gesichter der Agenten allzu sehr einprägten. Was sich hinter der ominösen Tür abspielte, wagte ohnehin keiner der damals über 1200 Hotelangestellten zu fragen. „Neugierig zu sein war ungesund“, sagt Nigol. Schließlich habe jeder ein Spitzel sein können, sogar die eigene Frau oder der eigene Bruder.
Waren interessante Zielpersonen auf dem Weg nach Tallinn, meldete sich der KGB zuvor telefonisch an der Rezeption: Die jeweilige Person sei in einem der 16 präparierten Zimmer unterzubringen, befahl der Anrufer. Im Nebenzimmer postierte der Geheimdienst dann einen „Gast“ aus den eigenen Reihen. Im Restaurantbereich servierten Kellner auf mit Mikrofonen verstärkten Tellern, in einzelnen Tischlampen waren kleine Antennen angebracht.
Wie alle Intourist-Häuser erfüllte auch das Gebäude in Tallinn einen doppelten Zweck: Es wurde 1972 ausschließlich für Gäste aus dem Westen errichtet, um dringend benötigte Devisen in die UdSSR zu locken - und um interessante Gäste auszuspähen. „Individualtouristen waren nicht so gern gesehen“, sagt Hotelmanager Nigol. „Die konnte man so schwer beschatten.“ Während Agenten die Nähe zu den Fremden suchten, sollte sich die Hotelbelegschaft bewusst fern halten. Zimmermädchen war es nicht erlaubt, Kontakt aufzunehmen, sagt Nigol. „Es gab sogar konkrete Verhaltensanweisungen, wo sie sich verstecken sollten, wenn ein Gast überraschend aus dem Zimmer kam.“
Wahrscheinlich verkabelten die Kommunisten alle größeren Klassenfeind-Beherbungsstätten von Leningrad bis Ost-Berlin auf diese oder ähnliche Weise. Das Besondere in Tallinn: Die Investoren tasteten das Vorgefundene nicht an, und so wurde aus den Hinterlassenschaften des KGB ein kleines Spionage-Museum. Nicht einmal die Putzfrauen lässt man bis heute hinein, weswegen die Szenerie inzwischen etwas eingestaubt ist.
Zwar scheut die Führung des zur finnischen Hotelkette Sokos gehörenden Hauses davor zurück, offensiv mit dem skurrilen Geheimzimmer zu werben. Dabei mag auch die Befürchtung eine Rolle spielen, dass der Gedanke, in einem verkabelten Haus zu nächtigen, auch heute manchem Besucher eher unheimlich vorkommen mag. Aber für besondere Gäste inszeniert das Hotel gern eine kleine Persiflage auf die Sowjetzeit: Mit Wodka, Gurken und russischer Musik im KGB-Versteck, serviert von Hotelboys in sowjetischer Uniform. Konferenzveranstalter können ihren Teilnehmern auf Wunsch den ultimativen KGB-Kick bieten: Da werden Tagungsteilnehmer „verhaftet“, aufs ominöse Zimmer geführt, dringend gebeten, über das Gesehene Stillschweigen zu bewahren - und erst später über das Narrenspiel aufgeklärt.
Die echten Geheimdienstler, die bekanntlich wenig Spaß verstanden, nahmen indes ein Rätsel mit nach Moskau: Wieso das Tallinner Intourist-Hotels kurz vor seiner Fertigstellung 1972 in Flammen aufging, wird wohl nie geklärt werden. Der Brand trieb die beauftragte finnische Baufirma in den Ruin, die Bauarbeiter aus dem Nachbarland reisten vorzeitig ab. Die These, der Geheimdienst selbst habe das Feuer gelegt, ist nicht bewiesen. Aber sie scheint plausibel: Denn die ganz speziellen Kabelstränge zu verlegen und im 23. Stock zu bündeln, wollte man wohl kaum ausländischen Installateuren überlassen.
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