Der lange Marsch in die IV. Republik
WARSCHAU (n-ost) – In wenigen Tagen geht in Polen die Ära Kwasniewski zu Ende. Zehn Jahr führte der zum Sozialdemokraten gewendete ehemalige Jugendminister der „Sozialistischen Volksrepublik“ Aleksander Kwasniewski sein Land als Staatspräsident. In seine Amtszeit fallen so entscheidende Daten wie der Eintritt Polens in die einst verhasste NATO und die Aufnahme in der Europäischen Union. Der Postkommunist Kwasniewski erarbeitete sich Respekt im In- und Ausland. In einem von politischen Skandalen gebeutelten Polen galt er lange als stabilisierender Anker, als Bindeglied zwischen Menschen mit kommunistischer und anti-kommunistischer Vergangenheit. Nach Kwasniewskis Abgang droht Polen auseinander zu brechen. Der Nachwende-Konsens, die kommunistische Vergangenheit ruhen zu lassen, wurde bei den vorangegangenen Wahlen geradezu pulverisiert.
Denn die beiden in Parlaments- wie Präsidentschaftswahlen gleichermaßen siegreichen Zwillingsbrüder Lech und Jaroslaw Kaczynski läuten nun zur Abrechnung mit den kommunistischen Eliten und ihren Machtstrukturen und haben eine neue Gesellschaft, die „IV. Republik“ ausgerufen. Das polnische Volk, vieler Skandale müde, in die über alte Seilschaften beinahe jeder post-kommunistische Abgeordnete verwickelt zu sein schien, ist ihrem Schlachtruf gefolgt, oder aus Mangel an Alternativen gar nicht erst zur Wahl erschienen. Nur 50 Prozent der Wahlberechtigten beteiligte sich an der sonntäglichen Stichwahl des Staatspräsidenten. Als Sieger konnte so Lech Kaczynski gerade mal knapp 26 Prozent des Elektorats auf sich vereinigen.
Mit einem lauten Knall ist ein Deckel in die Luft geflogen, dem man der polnischen Gesellschaft vor 15 Jahren verpasst hatte. Es war die Politik des so genannten „dicken Strich“, den 1989 der erste nichtkommunistische Premierminister Tadeusz Mazowiecki unter die polnische Vergangenheit gezogen hat. Der „dicke Strich“ schob die Vergangenheit bei Seite, der Versöhnung wegen, frei nach der polnischen Bauernregel „die Wahrheit schmerzt, deswegen muss man sie nicht immerzu erwähnen“. Anders als in Deutschland wurden in Polen die Akten der Sicherheitsdienste aus der Volksrepublik unter Verschluss gehalten. Eine Stasi-Überprüfung, wie deutsche Eliten sie regelmäßig über sich ergehen lassen müssen, hat es in Polen nur in wenigen Einzelfällen gegeben.
Ausgerechnet Adam Michnik, ein ehemaliger Solidarnosc-Dissident und Herausgeber der meinungsführenden Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, gehört zu den entschiedensten Befürwortern dieses Schlussstrichs. Die von den nationalkatholischen Kräften Anfang der neunziger Jahre lautstark geforderte Entkommunisierung vergifte das öffentliche Leben und führe zu einer Hexenjagd, warnte Michnik, der sich mit General Wojciech Jaruzelski dazu öffentlich zu einer Aussprache traf. Der General war 1981 für die Verhängung des Kriegsrechts und die Verfolgung der „Solidarnosc“ verantwortlich.
Die Rechnung über dem „dicken Strich“ schien aufzugehen: Während Deutschland durch den Sumpf der Stasiakten watete, feierte Polen in den neunziger Jahren seine wirtschaftliche Freiheit. Die Wahl Aleksander Kwasniewskis 1995 zum Präsidenten symbolisierte die erfolgreiche Integration der alten Kräfte. Nicht der Solidarnosc-Kämpfer Lech Walesa, sondern der Wendekommunist wurde zum Hoffnungsträger des neuen Polen. Mit Leszek Miller brachte es dann nach der Jahrtausendwende ein zweiter ehemaliger kommunistischer Jungfunktionär zum Premierminister.
Doch mit den Postkommunisten kamen die Affären um Korruption bei der Privatisierung ehemaliger Staatbetriebe. Allen voran der größte polnische Konzern, der Öl-Multi PKN Orlen, der auch in Deutschland Tankstellen betreibt und einen fortlaufenden Untersuchungsausschuss des polnischen Parlaments beschäftigt: Zahlreiche linke Politiker steckten sich bei der Privatisierung vermutlich die Taschen voll. Nach Leszek Miller stürzte auch der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat und frühere Ministerpräsident Wlodzimierz Cimoszewicz über die Affäre und zog entnervt seine Kandidatur zurück. Der letzte Hoffnungsträger der Linken strich damit die Segel. Zum Ende seiner Amtszeit droht sogar Kwasniewski selbst in den Strudel aus Verdächtigungen zu geraten. Der Parlamentsausschuss zur Affäre will ihn und sechs weitere Politiker wegen Amtsmissbrauchs vor ein Sondergericht stellen.
Polen sei reif für eine moralische Erneuerung, für eine „IV. Republik“, wie auch Bronislaw Wildstein den Wechsel nennt. Der Warschauer Journalist hatte im Januar 2005 unerlaubt eine Liste mit 160 000 Personen aus dem „Institut des Nationalen Gedenkens“ (IPN) - der polnischen Variante der Birthler-Behoerde - veröffentlicht. Auf der „Wildstein-Liste“ stehen Menschen, über die der polnische Geheimdienst eine Akte angelegt hatte. Täter genauso wie Opfer. Bis Anfang 2005 hatten sich erst 25 000 Polen beim IPN um Akteneinsicht bemüht. Zum Vergleich: In Deutschland waren es seit 1992 mehr als 2,2 Millionen Personen, darunter auch viele Journalisten, für die das in Polen nur sehr eingeschränkt möglich ist.
„Wildsteins Liste“ wurde zum Riesenskandal und wirbelte urplötzlich die Vergangenheit des Landes wieder auf, die so fein säuberlich zugeschaufelt worden war. Vor allem die Konservativen profitieren nun davon. Das nun bald regierende rechtskonservative Zwillingspaar Kaczynski bezeichnet die ausgebliebene Entkommunisierung als Geburtsfehler der III. Republik. Ihre erst vor vier Jahren gegründete Partei haben sie nicht zuletzt deshalb „Recht und Gerechtigkeit“ genannt. Die ausgebliebene Debatte solle nun nachgeholt werden, und als kleine Zugabe bekunden die Zwillinge auch noch offen ihre Sympathie für die Todesstrafe. Polen droht eine Hexenjagd. So wäre es kaum verwunderlich, wenn Kwasniewski nach seinem Ausscheiden aus dem Amt das Weite sucht. Er ist für einen hohen Posten bei der Uno im Gespräch.
*** Ende ***