Bosnien-Herzegowina

Sehnsucht nach Europa

Sarajevo/Mostar (n-ost) - Die Straßen Mostars sind zu jeder Tageszeit belebt. Ob früh morgens oder spät abends, die Menschen schlendern durch die Gassen der Altstadt, halten hier und dort ein Schwätzchen, auf dem Weg zur Arbeit, zum Markt oder zu einem der vielen Cafés. Überall haben Mostars Cafébesitzer ihre Tische auf die Straße in die immer noch warme Sonne gestellt. An einem der Tische sitzt Danijel Kulenovic. Er trinkt türkischen Kaffee – schwarz und süß – und raucht. „Mostar ist eine Geisterstadt“, sagt Danijel bestimmt. Trotz der belebten Straßen?

„Vor dem Krieg war Mostar die multiethnische Stadt Jugoslawiens. Heute ist es eine geteilte Stadt.“ Kroaten leben auf der Westseite der Neretva, die muslimischen Bosniaken im Osten der Stadt. Serben gibt es kaum mehr in Mostar. Danijels Vater war Moslem, seine Mutter Serbin. Danijel selber ist multiethnisch, in einem ethnisch geteilten Land.

Der blutige Kampf in Mostar, die Belagerung Sarajevos, das Massaker von Srebrenica – vor zehn Jahren setzte das im November 1995 im amerikanischen Dayton ausgehandelte Friedensabkommen dem Morden und der Zerstörung in Bosnien ein Ende. Dayton brachte tatsächlich Frieden ins Land, aber das einst multiethnische Bosnien-Herzegowina war nicht mehr zu retten: Bosniaken, Kroaten und Serben, drei Ethnien mit drei verschiedenen Religionen – muslimisch, katholisch und orthodox – und drei Sprachen – bosnisch, kroatisch und serbisch. In der alten jugoslawischen Teilrepublik Bosnien lebten sie seit 1945 relativ friedlich zusammen, dann kam der Krieg, alte, über 60 Jahre alte Rechnungen wollten urplötzlich beglichen werden, die Gesellschaft bracht blutig auseinander. Heute bestimmt die ethnische Trennung das Leben, die Politik und sogar oft die Administration des Landes.

Zehn Jahre nach Dayton ist Bosnien-Herzegowina immer noch kein souveräner Staat. Die Grenzen, die in Dayton festgelegt wurden, sind umstritten. Das Land wurde in zwei Entitäten geteilt. Bosnien-Herzegowina besteht aus der zentralistischen Republika Srpska – der Repubik der bosnischen Serben – und der Föderation Bosnien-Herzegowina mit zehn Kantonen.

„Wir sind alle ein Volk. Ich bin kein Bosnier – ich bin Jugoslawe.“ Danijel sehnt sich nach Titos Jugoslawien, an das er sich eigentlich kaum erinnern kann. Fünfzehn Jahre alt war er, als der Krieg in Bosnien begann. Er floh mit seiner Familie nach Kanada. Dort hätte er bleiben können, doch er kam zurück in seine Heimat, nach Mostar.

In Mostar gibt es nun von allem zwei: zwei Müllabfuhren, zwei Feuerwehren und getrennte Radio- und Fernsehsender. Auf Landesebene gibt es von allem drei: drei Lehrpläne, drei nationalistische Parteien und drei Präsidenten. Das Dayton-Friedensabkommen sorgt für Ruhe und Frieden im Land, ist die Grundlage für das politische System und regelt sogar Flüchtlings- und Rückkehrfragen. Gleichzeitig wurde eine hochkomplexe Staatsstruktur kreiert, die ihren Preis hat. Über 60 Prozent des Staatsbudgets wird von Verwaltungskosten aufgefressen. Dabei wird das Geld an anderen Ecken – für Investitionen, für Soziales – mehr denn je gebraucht.

Es verläuft kaum ein Gespräch über Bosnien, ohne dass der Friedensvertrag diskutiert wird. Oft heisst es „so kommen wir nicht weiter! So kommen wir nie in die EU.“ Doch eine Revision des Dayton-Abkommens ist sehr schwierig. Ohne die internationale Gemeinschaft wäre das Land nicht lebensfähig. Die EU-Sterne strahlen auf Förder- und Wiederaufbauplaketten, EUFOR-Soldaten flanieren durch die Fußgängerzonen. Letzte Instanz ist der Hohe Repräsentant, der Brite Paddy Ashdown. Er hat das letzte Wort im Staate und an ihn werden alle Probleme delegiert, bei denen sich die drei Nationalitäten nicht einig werden können. Gerade darin sieht Carl Bildt, selbst 1995-1997 erster Hoher Repräsentant der EU in Bosnien, ein Haupthindernis für den Friedensprozess. „Das Büro des Hohen Repräsentanten sollte so schnell wie möglich geschlossen werden“ fordert Bildt. Dann seien die Nationalitäten gezwungen, endlich Kompromisse zu schließen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ein Wiederaufflammen der Kämpfe fürchtet Bildt nicht. Die jetzige Generation sei traumatisiert und habe von dem Krieg definitiv die Nase voll.

Auch der junge bosnische Serbe Slobodan Medic sieht das Engagement der Internationalen Gemeinschaft kritisch. „Warum kommen sie alle? Wollen sie uns wirklich helfen oder Einfluss und einen neuen Markt?“ Er ärgert sich aber auch über seine Landsleute. „Wir sollten stolz darauf sein, dass wir ein so multiethnisches Land sind. Aber nein, wir trennen alles und jeden nach seinem ethnischen Hintergrund.“ Slobodan spricht fließend Deutsch. Während des Krieges lebte er in Frankfurt; nun studiert er Design in Sarajevo. „Wenn wir nur in die EU kämen... Dann wäre alles wieder besser, die ethnischen Grenzen würden verschwimmen. Doch wann wird das sein?“

Für viele ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union der einzige Ausweg. „In der Europäischen Union verschwinden Probleme nicht; aber Konflikte werden eingedämmt, die gefährliche Dynamik wird ihnen genommen.“ Die Worte von Botschafter Wnendt, Ashdowns Vertreter klingen einleuchtend. Das Ziel einer EU-Mitgliedschaft ist das einzige größere Vorhaben, bei dem sich die drei Volksgruppen Bosnien-Herzegowinas einig sind. Die muslimischen Bosniaken sind bereit, in einem vornehmlich christlichen Europa aufzugehen; ihr Traum von einer zweiten „Dayton“-Konferenz unter internationaler Regie bleibt ihnen vorerst verwehrt. Der Traum der bosnischen Serben und Kroaten, Serbien beziehungsweise Kroatien anzugehören, ist ad acta gelegt oder in die ferne Zukunft gerückt.

Doch ohne Einigung über die Wege in die EU, gibt es keine Mitgliedschaft und davon ist das Land noch weit entfernt. Die Parteien stehen schlichtweg für die Ethnien. Das Ethnische wird auch bei Wahlen betont. Man wählt als Serbe, Bosniake oder Kroate, nicht als bosnischer Staatsbürger. Zur letzten Wahl gingen nur zehn Prozent der Jugendlichen. Maja Begovic wählte auch nicht. „Wen hätte ich schon wählen sollen – einen dieser Nationalisten? Dann wähle ich lieber erst gar nicht.“

Die Ethnien vereinen, das will auch die EU und die Internationalen Organisationen. Viele der Projekte und Programme der internationalen Gemeinschaft verlangen eine Beteiligung aller drei Volksgruppen. Diese gut gemeinten Bemühungen unterstreichen aber paradoxerweise genau die zu überwindenden ethnischen Hintergründe. Die ethnische Teilung werde weiterhin auch seitens der Internationalen Gemeinschaft reproduziert, wie es Dr. Azra Džajić, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo ausdrückt. Der „Versöhnungsterror aus dem Westen“ verdecke vieles. Schließlich könne Versöhnung nur von Innen kommen.

„Jobs and justice“,–, sagt Boris Stjepanović, politischer Berater der Deutschen Botschaft in Sarajevo, das sei es, was die Menschen und das Land bräuchten und was es bei Zeiten wieder vereinen könnte. Doch von Jobs und Rechtsstaatlichkeit sind die Bosnier weit entfernt. Von den 44 Prozent Arbeitslosen ist zwar die Hälfte auf dem Schwarzmarkt beschäftigt, doch genau dort beginnt das Manko der Rechtsdurchsetzung. Kaum einer zahlt Steuern.

Zehn Jahre nach Dayton sucht das Land immer noch nach seiner Zukunft. Dass es Hoffnung bei allen Problemen auch gibt, zeigt Sarejevo. Hier ist das multiethnische Bosnien von damals wieder zu erkennen. Die Kirchenglocken schlagen, der Muezzin ruft vom Minarett. Willkommen im bunten Europa! Ja, das wäre sein Traum, sagt Danijel: „Ich will einfach Europäer sein!“

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