Russisch-arabisches Disneyland oder Modellstadt?
Kasan (n-ost) - In der russischen Provinz, 800 Kilometer westlich von Moskau, wird Ende August ein besonderes Jubiläum gefeiert: Kasan, die Hauptstadt der autonomen Teilrepublik Tatarstan, begeht ihr tausendjähriges Jubiläum. Die Souvenirhändler in der zentralen Fußgängerzone, der Uliza Baumana, sitzen schon mit Unmengen der traditionellen Tubeteka-Hüte bereit, die an den marokkanischen Fez erinnern, und zu hunderten unter die erhofften Touristenströme gebracht werden sollen.
Dabei können auch die Archäologen nicht sicher bestimmen, ob die Millionenstadt an der Wolga tatsächlich 1000 Jahre als ist. In den 70er-Jahren wollten die örtlichen Behörden schon einmal 800 Jahre Kasan feiern, was aber die Ideologen der Kommunistischen Partei verboten – angeblich weil eine Provinzstadt nicht älter als Moskau sein könne. Dass die Stadt nun in kurzer Zeit 200 Jahre gealtert ist, begründen die Historiker mit neuerlichen Grabungsfunden, kritische Zeitgenossen mit politischen Gründen.
Tatarstan hat den Status einer autonomen Republik, die Gegend ist reich an Rohstoffen. Moskau ist dem Mehrheitsvolk, den Tataren gegenüber von alters her kritisch eingestellt. Jahrhunderte lang herrschten tatarisch-mongolische Stämme über weite Teile Russlands. Erst Iwan der Schreckliche holte 1552 zum Gegenschlag aus, indem er Kasan als erste nichtrussische Siedlung gewaltsam in sein Staatswesen integrierte.
Die Hälfte der Bevölkerung ist muslimisch. Auch wenn das Zusammenleben mit den christlich-orthodoxen Russen (40 Prozent Bevölkerungsanteil) als sehr friedlich charakterisiert wird, strebt Tatarstan immer wieder nach mehr Autonomie von Moskau. Als die Sowjetunion Anfang der 90er Jahre zusammenbrach, konnten sich die Tataren Sonderrechte auf wirtschaftlichem Gebiet ertrotzen. Sogar Pläne für die Ausrufung eines eigenen Staates hat es gegeben. Der blutige Unabhängigkeitskrieg des ebenfalls muslimischen Tschetschenen diente dann aber als abschreckendes Beispiel.
Moskau versucht die selbstbewusste Provinz mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche bei der Fahne zu halten: Als Tatarstan die kyrillische Schrift abschaffen und das mit lateinischen Buchstaben geschriebene Tatarisch zur Republiksprache erheben wollte, gab es aus dem Kreml ein entrüstetes Veto. Ansonsten wird die Herrscherclique um den autoritär regierenden Mintimer Säymiew von Moskau relativ in Ruhe gelassen. Im Gegenteil: Als Dank für Loyalität werden selbst abstruse Projekte genehmigt, wie das „Programm zur Beseitigung baufälligen Wohnbaubestandes und Umgestaltung der Stadtquartiere mit baufälligem Wohnbaubestand in Kasan“ anlässlich des Jubiläums.
Mit dem Programm begann eine gewaltige Umgestaltung des Stadtzentrums. Von den unzähligen Altbauten aus der Zeit der Zaren standen 232 unter strengem und 661 unter etwas gelockertem Denkmalschutz. Die Praxis sieht anders aus. Wer in den letzten Monaten durch Kasan spazierte, konnte überall den Abriss der typischen Kasaner Bauten des 19. Jahrhunderts beobachten. Der Charme einer russischen Kaufmannsstadt wich innerhalb weniger Jahre schnell hochgezogenen Neubauten, deren Fassaden in den verschiedensten Stilrichtungen schillern. Aus Kosten- und Profitgründen zeigten weder staatliche noch private Stellen wirkliches Interesse am Erhalt der Gebäude.
Etliche Häuser litten auch unter dem Bau der neuen Kasaner Metro. Entlang ihres Streckenlaufes mussten unzählige Altbauten weichen, weil sich Investoren hier eine besonders hohe Wertsteigerung der Grundstücke versprechen. Dutzende historische Häuser fielen dem Bau selbst zum Opfer, weil die Tunnel in Eile und oft ohne Rücksicht auf etwaige Schäden vorgetrieben wurden. Ob die Metro mit ihren fünf Stationen je so viele Passagiere anlocken wird, wie versprochen, ist umstritten. Und warum Kasan innerhalb weniger Jahre eine Metro bekam, während in anderen Städten der Bau seit Ewigkeiten stockt, bleibt auch ein Geheimnis des Moskauer Kremls.
Immerhin, bei den Details der Metro wird mit Stil gebaut – in alter sowjetischer Tradition sind alle Stationen thematisch gestaltet: altrussische Gewölbekeller, orientalisches Interieur, Motive aus der Backsteinarchitektur oder Futurismus prägen der unterirdischen Paläste.
Ein anderer Palast wurde bereits vor einigen Wochen eröffnet: die höchste Moschee Europas. Mitten im leuchtend weiß strahlenden Kasaner Kreml, an dessen Stelle vor dem Einmarsch Iwans des Schrecklichen bereits ein großes islamisches Gotteshaus stand, dann aber von den Russen abgetragen wurde, entstand in fast zehnjähriger Bauzeit die Kul-Scharif-Moschee. Der Bau mit vier 57 Meter hohen Minaretten wurde durch Spenden islamischer Länder sowie mit tatarischen Steuermitteln finanziert. Politiker freuen sich über die gelungene Integration des Islam in die Gesellschaft und nennen die 1,2-Millionenstadt ein Modell für das gesamte russländische Vielvölkerreich. Kritiker sehen in dem Bau jedoch ein saudi-arabisches Disneyland. Bei Nacht jedenfalls ist die Moschee in leuchtenden Farben angestrahlt und schwebt über der Stadt wie ein aus fernen Welten landendes Ufo.
Die Bevölkerung steht dem Umbau der Stadt eher positiv gegenüber. Der Geldregen aus Moskau beschert Kasan Prestige. Die russische Edition des Journals GEO widmete der Stadt eine ganze Ausgabe. Ein neuer Unterhaltungskomplex wurde errichtet, ein Konzerthaus, ein Nobelhotel – alle mit modernen farbigen Spiegelglasfassaden. Schon zur Jahrtausendwende wurde unweit des UNESCO-geschützten Kreml einer der modernsten Sportpaläste der russischen Föderation hochgezogen. Auch wer seine alte Wohnung aufgrund des Stadtumbaus verlassen musste, ist nicht böse. Die Stadt stellte kostenlos größere und modernere Wohnungen am Stadtrand zur Verfügung – in der Altstadt waren fließendes Wasser und Zentralheizung so gut wie unbekannt.
Von Kritik am Gesichtsverlust der Stadt wird daher zum Jubiläum rund um den 30. August 2005 wenig zu hören sein. Stattdessen feiert sich Kasan unter anderem mit einem Musik-, einem Opern- und einem Ballettfestival als glitzernde russisch-arabische Modellstadt.
www.kazan1000.ru – offizielle Seite zur 1000-Jahr-Feier, in tatarischer, russischer und englischer Sprache
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Norbert Schott