Russland

Feuer der Hölle


Beslan (n-ost) - Am 3. September 2004 flimmerten urplötzlich Bilder aus einem vergessenen Teil Europas über die Fernseher in deutsche Wohnzimmer. Es waren Bilder von Terror und Gewalt. Sie erschütterten die Grundfesten des Glaubens an Menschlichkeit, sie brachen das Tabu von der Unantastbarkeit von Kindern. Bilder aus Beslan, einer unbekannten, kleinen Stadt in einem unbekannten kleinen Land namens Nordossetien, wo eine Gruppe von Terroristen Schulkinder und deren Eltern in der Schule Nummer eins gefangen hielt. Was als fröhliche Feier zum Schuljahresanfang begann, endete nach drei Tagen in einer Katastrophe. Nach dem missglückten Sturm von Sondereinsatzkräften auf die Schule zählte man 332 Tote, davon 176 Kinder, die von Bomben zerrissen, von Flammenwerfern verbrannt, von Trümmern erschlagen, von Terroristen erschossen wurden, oder einfach im Kugelhagel starben.

Beslan, ein Jahr später, ist eine Stadt, in der die Zeit eingefroren ist. Zu dem Schmerz über die Toten kam jener über die Lügen hinzu. Schon im September 2004 mutmaßten die Überlebenden und Hinterbliebenen des Attentats, die Wahrheit über die Drahtzieher und den Verlauf der Geiselnahme wohl nie zu erfahren. Augenzeugen des Sturms auf die Schule stellten die offizielle Version sofort in Frage. Sie glaubten nicht, dass eine Explosion von innen die Katastrophe auslöste, wie die russische und ossetische Regierung verlautbarten und damit die dilettantisch ausgeführte Befreiung der Geiseln rechtfertigten. Stattdessen behaupten überlebende Geiseln wie die Lehrerin Viktoria Zugoewa, ein Scharfschütze habe einen der Terroristen erschossen, der auf dem Auslöser für die Bomben stand.

Drei Explosionen, sagen die Zeugen, die in der Turnhalle der Schule saßen aus, habe es gegeben. Schließlich habe das Dach der Turnhalle gebrannt und sei eingestürzt. Was genau den Brand auslöste – der Beslaner Journalist Murat Kabojew behauptet, es sei möglicherweise eine Panzergranate gewesen – warum keine Feuerlöschfahrzeuge bereit standen, warum die für solche Zwecke ausgebildeten Soldaten der russischen Elitetruppe Alpha zur Zeit des Sturms fernab der Schule eine Übung durchführten – auf all diese Fragen gibt es bis heute keine zufriedenstellende Erklärung.

Die Vernichtung der Terroristen, nicht aber die Rettung der Kinder, sei das Ziel der Verantwortlichen in Regierungen und Krisenstab gewesen, ist das Fazit, dass man in Beslan gezogen hat, und trotz vielfacher gegenteiliger Versicherungen der Untersuchungskommission nicht revidieren will. Warum sonst habe die Regierung zwei Tage lang die Zahl der Geiseln mit 300 angegeben, obwohl es doch in Wirklichkeit über 1000 waren und bis zum Schluss behauptete, die Terroristen hätten keine Forderungen gestellt, fragt die Mutter Ira Baliewa, die verletzt aus dem Inferno entkommen konnte. Warum seien die Präsidenten von Nordossetien und Inguschetien nicht wie von den Geiselnehmern gefordert, zum Gespräch erschienen?

Susanna Dudiewa, Vorsitzende des Kommitees der Mütter von Beslan, kann nicht verstehen, warum nur der einzige überlebenden Terroristen Nurpashi Kulajew zur Verantwortung gezogen werden soll. „Kulajew ist doch nur ein Rädchen im Getriebe. Die wahren Täter sitzen auf den Stühlen der Regierung“, sagt sie.

Nicht zuletzt der Druck der Beslaner, vor allem des Mütterkommitees und ihre beharrliche Forderung nach Antworten, hat dazu geführt, dass der nordossetische Präsident Alexander Dsasochow im Mai 2005 zurücktrat und die Regierungen von Russland und Nordossetien Fehler einräumen mussten: Schon bald nach dem Ende des Geiseldramas hatten Bewohner von Beslan Beweise dafür gefunden, dass bei dem Einsatz Flammenwerfer benutzt wurden, und andere Waffen, deren Verwendung in Gebieten mit Zivilbevölkerung nach der Genfer Konvention verboten ist. Zudem, so der Vorwurf, habe es nach dem Geiseldrama in der Schule keine Spurensicherung gegeben, im Gegenteil, mögliche Spuren seien schnell beseitigt worden. Beweismittel, wie Haar- und Kleidungsreste der Geiseln, Waffen, Patronenhülsen, fanden die Beslaner Monate nach dem Attentat in einer Kiesgrube verscharrt.

32 Täter haben die Einsatzkräfte erschossen. Inguschen, Tschetschenen, ein Ossete. Erst 20 der Täter sind offiziell identifiziert. Glaubt man den Obduktionsberichten handelt es sich um 33 Kleinkriminelle, mit Drogen vollgepumpt, für jede Bluttat billig zu haben. Die meisten von ihnen sollten, nach Recherchen des „Spiegel“, zum Tatzeitpunkt wegen vorangegangener Straftaten eigentlich im Gefängnis sitzen. Aber wie viele agierten hinter den Kulissen. Noch einmal 33? Womöglich, so das zögerliche Eingeständnis der Untersuchungskommission, seien auch Terroristen entkommen. Noch in der Nacht, die auf den Sturm folgte, wollen Anrainer der Schule gehört haben, wie in den ausgebrannten Räumen laut gebetet und Allah gepriesen wurde. Im christlichen Nordossetien ein Beweis, dass sich moslemische Attentäter dort noch immer verschanzt hielten.

Einige Männer hat man als Handlanger bestraft: ein paar Polizisten, die an Straßensperren standen und den Kopf zur Seite drehten, als ein Lastwagen mit schwerbewaffneten Männern vorbeifuhr. Kleine Fische also, Zulieferer, Schmierenkriminelle. Andere haben protzend die Schuld auf sich genommen. Shamil Basajew, der tschetschenische Separatistenführer, den die westdeutsche Presse gerne mit dem Begriff „Warlord“ schmückt, und den die Russen zum Top-Terroristen erklärten und seiner doch nicht habhaft werden. Und das, obwohl er angeblich regelmäßig in Ossetien und Kabardino-Balkarien kurt. Aber vielleicht ist auch das nur so eine der vielen Geschichten, die man sich im Kaukasus erzählt. Wo die Wahrheit eine Illusion ist, füllt man die Löcher eben mit Legenden.

Jeder Terroranschlag hat seine Vorgeschichte. Auch die amerikanische Regierung musste sich vorwerfen lassen, blind gewesen zu sein für das Unheil, dass sich schon vor dem 11. September 2001zusammenbraute. In Beslan aber war es nicht nur Blindheit, die den Terroristen den Weg bis in die Schule ebnete, sondern eine gefährliche Melange aus Nachbarschaftskonflikten, unbeglichenen Rechnungen sowie bezahlte, ideologische oder machtpolitisch motivierte Mittäterschaft auf vielen Ebenen.

Es sind jene offenen Fragen und die Erinnerung an die grausamen Umstände des Geiseldramas, die verstümmelten Leichen, die schmerzhafte Suche nach den Angehörigen in Krankenhäusern und Leichenschauhäusern, die die Bewohner von Beslan bis heute nicht ruhen lassen. Nicht nur die Kinder sind traumatisiert, auch die Erwachsenen gehen an der Hilflosigkeit zugrunde. In ihrem Schmerz halten sie sich an Rachegedanken, wollen das Unrecht an ihren Kindern sühnen. Fragt man, an wem, werden die benachbarten und mit den Osseten verfeindeten Inguschen, die Amerikaner und die Moskauer Regierung als Schuldige genannt. Man betrachtet sich als Opfer eines Ringens zwischen den Großmächten, als Kollateralschaden im Streben nach Geld, Öl und Einfluss.

Am 3. September 2004 zeigten sich die westlichen Länder überrascht vom Ausmaß der Gewalt und vergaßen in den verwunderten Fragen nach dem Warum, dass diese Gewalt vor Ort täglich stattfindet und Nährboden für jenen kranken Radikalismus ist, der Menschlichkeit und Mitleid erstickt. Beslan, so heißt es später, habe dem Terror eine neue Dimension gegeben, weil es Terror gegen Kinder war. Eine unsinnige, wie falsche Emotionalisierung. Die Kinder von Beslan erhielten ein Gesicht, doch das Sterben von Unschuldigen war im Kaukasus nichts Neues. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sind im Krieg, der in Nordossetiens Nachbarland Tschetschenien tobt, bereits 25 000 Kinder umgekommen.
In Tschetschenien ist inzwischen eine ganze Generation mit dem Wissen um Folter und Mord aufgewachsen. Kinder, die täglich an Leichen vorbeigehen. Kinder, deren Mütter oder Väter verschleppt wurden, deren Angehörigen man die Augen ausstach, die Arme ausriss, ihre Körper mit Dynamit in die Luft sprengte. Seit fast einem Jahrzehnt brennen in Tschetschenien die Feuer der Hölle, und niemand schreitet ein.

Beslan hätte ein Lehrstück über verfehlte Politik, falsches Schweigen und falsche Freundschaften sein können. Es ist höchste Zeit, das europäische Gesäusel mit Russland zu überdenken und endlich ein Ende des Krieges in Tschetschenien und eine politische Basis zu verlangen, auf der sich, wenn schon kein Frieden, dann doch wenigstens Stabilität für den Kaukasus aufbauen lassen.

Stattdessen provozierte das Attentat nicht viel mehr als hilfloses Entsetzen über Dinge die sich angeblich nicht ändern lassen. Keine internationale Vereinigung fordert Aufklärung über den Einsatz der unerlaubten Waffen. Ein Jahr nach Beslan ist der dortige Terror für die Westeuropäer nur mehr eine der vielen Katastrophen, die man kopfschüttelnd und passiv registriert. Längst wurden die Bilder der schreienden und toten Kinder von anderen Horrorbildern verdrängt. Heute ist Nordossetien wieder ein vergessenes Land irgendwo am Rande von Europa. Bis zum nächsten Terror im Kaukasus.

***Ende***




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