Russland

Die Besatzungsmacht und ihre Opfer


Moskau (n-ost) - Sie wussten nicht, was ihren Vätern, Müttern, Geschwistern zugestoßen war, die zwischen 1950 und 1953 in der DDR spurlos verschwanden. Nicht einmal wussten sie, wo man deren sterbliche Überreste verscharrt hatte, als Jahre später die Behörden mit der unfassbaren Nachricht herausrückten: „Verstorben auf dem Territorium der UdSSR.“ So stand es als Standardformulierung in der Todesurkunde, die bei den Ämtern abgeholt werden konnte. Das Todesdatum war gefälscht.

Erst jetzt können die Familien der Opfer wirklich Abschied nehmen von ihren Angehörigen. Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und das private Berliner Geschichtsinstitut „Facts & Files“ haben das Schicksal von über 900 Deutschen rekonstruiert, die aus der DDR verschleppt und in der Sowjetunion erschossen wurden. Sie bildeten die größte Gruppe der insgesamt 1437 während der letzten drei Stalin-Jahre in Moskau Hingerichteten. Auf dem Moskauer Friedhof Donskoje wurde unlängst ein Gedenkstein aufgestellt, der an dieses leidvolle Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte erinnert.

„Memorial“ hat dreieinhalb Jahre lang Moskauer Erschießungslisten von 1935 bis 1953 ausgewertet und ist – unter anderem im Archiv des KGB-Nachfolgers FSB – auf die Namen von rund 600 Deutschen gestoßen. Durch gezielte Nachforschungen von „Facts & Files“ erhöhte sich diese Zahl auf (vorläufig) 925. Im Herbst 2005 soll ein Buch mit Kurzbiographien der Opfer erscheinen, das sich auf umfangreiches Material zu dem Verbrechen stützt.

Christoph Priesemann streicht mit den Fingern über ein altes Foto. Der heute 64-jährige Rentner aus Schwerin ist darauf neun Jahre alt und sitzt mit seinen Geschwistern Helmut, Henning und Susanne in der ersten Reihe. Dahinter: ihre Mutter Anna und Vater Gerhard. Es ist das letzte gemeinsame Familienfoto. Am 30. August 1950 geht Gerhard Priesemann morgens aus dem Haus, kommt aber nie im Büro an. Der Staatssicherheitsdienst der jungen DDR fängt ihn auf der Straße ab. Das CDU-Mitglied wird der Besatzungsmacht überstellt.

Spionage soll er zugeben, immerhin hat er eine Schreibmaschine zu Hause. Die ihn im Schweriner Gefängnis verhören, wissen, wie man Geständnisse produziert. Am 3. Februar 1951 wird Priesemann von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt. Mit dem Zug geht es nach Moskau. Im berüchtigten Butyrka-Gefängnis nahe des Weißrussischen Bahnhofs wartet eine Einzelzelle. Die Verurteilten durften Gnadengesuche einreichen, aber nur weniger als zehn Prozent davon seien genehmigt worden, sagt der Historiker Frank Drauschke von „Facts & Files“. In solchen Fällen wurde stattdessen eine 25-jährige Lagerhaft ausgesprochen, zu verbüßen im Kohlerevier von Workuta am Polarkreis. Die dortigen Häftlinge kamen zwischen 1955 und 1956 frei.

Priesemann wird nicht begnadigt. Am 14. Mai 1951 führt man ihn spätabends zur Erschießung in den Keller. Die Todesurteile werden zu nächtlicher Stunde vollstreckt, damit die Wagen mit den Leichen im Schutze der Dunkelheit zum damals einzigen Moskauer Krematorium auf dem Friedhof Donskoje rollen können. Dort sind schon Gruben ausgehoben, eimerweise füllen sie sich mit der Asche und werden wieder zugeschüttet. Man habe, so der Vorsitzende von „Memorial“ Arsenij Roginskij, „nicht nur die Menschen auslöschen“ wollen, sondern auch „die Erinnerung an sie“. Roginskij hat selbst seinen Vater auf diese Weise verloren. Bis heute hat er keinen Hinweis auf den Beerdigungsort. Bei der Einweihung des Gedenksteins für die Deutschen sagt er den aus Deutschland angereisten Hinterbliebenen in einer persönlichen Anmerkung: „Ich beneide Sie. Denn Sie wissen jetzt, wo Ihre Angehörigen liegen. Viele wissen das nicht.“

Die Priesemanns sind tatsächlich dankbar. Zwar ist einer der Brüder, Henning, bei der Veranstaltung auf dem Moskauer Friedhof nicht dabei gewesen. Er hätte das nicht verkraftet, heißt es. Christoph ist dennoch überzeugt, dass die Aufklärung über die Hintergründe der Verbrechens „helfen, mit all dem besser zu leben.“ Und Susanne fügt hinzu: „Wir konnten doch die ganzen Jahre nicht mal trauern.“ 1991, als die Mutter gestorben ist, haben sie den Vater mit auf den Grabstein geschrieben.

Sowjetische Todesurteile im Ostteil Deutschlands wurden von 1945 bis 1947 zunächst in speziellen Lagern vollstreckt. Am 26. Mai 1947 schaffte die Sowjetunion die Todesstrafe per Gesetz ab, führte sie jedoch am 12. Januar 1950 wieder ein. Und schon im April fielen ihr die ersten Deutschen zum Opfer. Dass sie dafür 2 000 Kilometer nach Moskau gebracht wurden, können sich Historiker nur mit Gründen der Geheimhaltung erklären. Schlüssige Unterlagen dazu gibt es nicht. Offiziell veröffentlicht wurden zu DDR-Zeiten nur rund 80 von den Sowjetmilitärs verhängte Todesurteile. Die Angehörigen hofften in der Regel jahrelang auf die Heimkehr ihrer Verwandten, als diese längst nicht mehr lebten. Zahlreich vertreten waren darunter auch junge Menschen, Schüler und Studenten, die den neuen Machthabern suspekt erschienen und der sogenannten „Bandenbildung“ oder „antisowjetischen Hetze“ verdächtigt wurden.

Nach Angaben von „Memorial“ sind während der gesamten Sowjetzeit in Moskau rund 40 000 Menschen aus politischen Gründen erschossen worden. Für Barbara Priesemann, die Schwiegertochter von Gerhard Priesemann, ein Grund, nicht „die Russen“ für das Durchlittene verantwortlich zu machen. Nach ihrem jüngsten Moskau-Aufenthalt meinte sie: „Man fährt anders weg, als man hingekommen ist, weil man begreift, wie diese Vernichtung auch dort gewütet hat.“


*** Ende *** 

Tino Künzel



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