Chodorkowski meldet sich aus der Zelle
MOSKAU (n-ost) - Michail Chodorkowski, wegen Steuervergehen zu neun Jahren Haft verurteilter russischer Multimilliardär, hat sich erstmals nach seiner Verurteilung im Mai aus seiner Zelle zu Wort gemeldet. Die kremlkritische Zeitung „Vedomosti“, die zur Gruppe der „Financial Times“ gehört, druckte zu Beginn dieser Woche einen Brief Chodorkowskis in voller Länge ab. Er wird seitdem in renommierten russischen Zeitungen wie der „Iswestja“ oder der „Gazeta“ breit diskutiert.
Bisweilen erinnert der Brief in seiner Nüchternheit an das Manifest eines überzeugten Sozialdemokraten, und wüsste man nicht, dass Chodorkowski noch für lange Zeit im Gefängnis einsitzen wird, könnte man ihn auch als schriftliche Bewerbung um die Nachfolge Putins 2008 interpretieren. In einigen Teilen lässt Chodorkowski Selbstkritik erkennen, wenn er etwa die Rolle der Oligarchen in Russland beurteilt, aber auch direkte Kampfansagen an den Kreml sind enthalten. „Die Zeit des autoritären Projektes in Russland ist abgelaufen,“ urteilt Chodorkowski und verweist auf die Revolutionen in Georgien und der Ukraine.
Die autoritären Tendenzen in der Innenpolitik sind nach Chodorkowskis Ansicht nicht auf Präsident Wladimir Putin zurückzuführen, sondern seien eine Fortsetzung der Politik seines Vorgängers Boris Jelzin. Die Bevölkerung verlange ein sozial ausgewogenes staatliches Handeln, aber die Politik trüge dem nicht Rechnung. Hierfür würden die Oligarchen, also auch er selbst, eine große Mitverantwortung tragen. 90 Prozent der Bevölkerung würden in Armut leben, und die Unzufriedenheit hierüber wachse. „Soziale Eruptionen ereignen sich nicht in Zeiten wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Sie ereignen sich dann wenn es darum geht, die Gewinne ökonomischen Wachstums zu verteilen“, so Chodorkowski.
In der Tat gibt es in Russland derzeit viel zu verteilen: Der Überschuss des russischen Staatshaushaltes betrug im ersten Halbjahr 2005 astronomische 10,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das Wirtschaftswachstum hat nach einer Delle zu Beginn dieses Jahres wieder an Fahrt gewonnen. Die Regierung hat ihre Voraussage des voraussichtlichen Wirtschaftswachstums für 2005 vor wenigen Tagen auf 5,9 Prozent erhöht. Im Juni betrug das Wachstum gar 6,7 Prozent. Dies liegt vor allem an den in die Höhe schießenden Preisen für Öl und Gas.
Zwar sind die Sozialausgaben zu Beginn dieses Jahres nach lautstarken Demonstrationen gegen die Abschaffung von Privilegien für Rentner im gesamten Land kräftig erhöht worden, und die Löhne steigen ebenfalls. Auf der anderen Seite fressen die stark steigenden Preise etwa für Strom oder Heizung bei der Mehrheit der Bevölkerung einen großen Teil des Zugewinns jedoch wieder auf.
Bislang profitieren vor allem die Reichen von der liberalen russischen Wirtschaftspolitik. Vor kurzem wurde beispielsweise die Erbschaftssteuer gänzlich abgeschafft, und in Russland gilt ein einheitlicher Einkommenssteuersatz von 13 Prozent: Sowohl für den Millionär, als auch den armen Schlucker. Dies stößt bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Ablehnung, und die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in Russland bereits so weit geöffnet, dass selbst die Welthandelsorganisation warnt. In keiner anderen Stadt der Welt gibt es so viele Milliardäre wie in Moskau.
Chodorkowski weist in seinem Brief darauf hin, dass im Mai und Juni 2005 zwei Millionen Unterschriften gesammelt wurden, um einen Streik der chronisch niedrig entlohnten Lehrer zu unterstützen. „Ist dies kein Beweis dafür, dass Russlands Stabilität illusorisch und eine Krise herangereift ist?“, fragt der Mann hinter Gittern rhetorisch. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung fordere eine kostenlose Ausbildung und ein Rentenniveau, das zumindest das Existenzminimum sichere. Beides würden Präsident und Regierung jedoch ablehnen.
Die Polittechnologen des Kreml zögen die Zügel an, weil sie wüssten, dass die offizielle Wirtschafts- und Sozialpolitik ganz überwiegend abgelehnt werde, analysiert Chodorkowski. „Sie wissen, dass die Linken eine faire Wahl unausweichlich gewinnen würden.“ Staatlicher Paternalismus und Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, dies müsse das Programm der nächsten russischen Administration werden. „Durch eine Wahl, ohne Wahl oder nach einer Wahl. Der Linksschwenk in Russland ist ebenso notwendig wie unausweichlich“, prognostiziert Chodorkowski.
Dann nennt er die Leitlinien für eine Regierung nach Putin: So müsse die kommende russische Regierung die Kommunistische Partei und die linksnationalistische Partei „Rodina (Heimat)“ umfassen. Die Linksliberalen, insbesondere die Anhänger der „Jabloko“ Partei, müssten sich entscheiden, ob sie sich einer breiten sozialdemokratischen Koalition anschließen oder am Rande stehen bleiben wollen.
Gleb Pawlowski, ein einflussreicher kremlnaher Politologe, sieht den Brief des Ex-Oligarch als Versuch, die Kräfte zu spalten, die den Präsidenten und die Regierung unterstützen. Kremlkritische Kräfte links der Mitte teilen die Analyse Chodorkowskijs jedoch im Großen und Ganzen. Stanislaw Belkowski, Generaldirektor des Rates für nationale Strategie, fügt hinzu: „Hiermit meldet er seinen Anspruch auf die Führerschaft der linken Kräfte an.“
Chodorkowski, der auch nach seiner Aburteilung weiterhin über ein Milliardenvermögen verfügt, rückt mit diesem Brief zwar auf die linke Seite, lehnt aber eine Renationalisierung der umstrittenen Privatisierungen der 90er Jahre ab, mit denen er selbst reich geworden ist, und dies genau trennt ihn von großen Teilen des Volkes. Irina Chakamada, eine der führenden Liberalen und bei der letzten Präsidentenwahl Herausforderin Putins, hält es folglich für unwahrscheinlich, dass er in absehbarer Zeit die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen und eine linke Koalition leiten könnte. Chodorkowski könne aber „ein geistiger Führer“ werden. Der jetzige Brief ist der dritte, den der mit Hilfe seiner Anwälte aus dem Gefängnis heraus veröffentlichen kann, der erste nach seiner Verurteilung.
Die Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Immerhin sind die oppositionellen Kräfte in Russland seit Beginn dieses Jahres zweifellos erstarkt und die kremlnahe Partei „Einheitliches Russland“ hat bei Regionalwahlen deutlich an Boden verloren. Andererseits ist das Ansehen Präsident Putins unverändert hoch und eine personelle Alternative für ihn noch nicht in Sicht. Umso intensiver wird bereits jetzt über den Nachfolger Putins diskutiert und spekuliert. Der Präsident hat wiederholt bekräftigt, dass er sich im Jahre 2008 gemäß der Verfassung nicht nochmals um eine Wiederwahl bemühen werde.
***Ende***
Dr.Christian Wipperfürth