Ungarn

Angst vor ungarischen Billig-Metzgern

BUDAPEST (n-ost) – Als Ungarn als erstes Land des Ostblocks im Sommer 1989 den Eisernen Vorhang öffnete und so tausenden von DDR-Bürgern die Flucht nach Westen ermöglichte, schworen deutsche Politiker den Ungarn ewige Freundschaft. Doch nichts hält ewig: Seit im Zuge der EU-Osterweiterung immer mehr Ungarn selbst den Weg nach Westen genommen haben und sich im Dienste ungarischer Subunternehmen in Deutschland als Billigarbeiter verdingen, hat sich die Welt verändert. Ungarischer Gulasch, der von ungarischen Billigmetzgern in deutschen Schlachthöfen angerichtet wird – das schmeckt hierzulande immer weniger Menschen. Und die Behörden reagieren: In den vergangenen Monaten wurden insgesamt 134 osteuropäische Firmen in Deutschland im Auftrag des Bundesfinanzministeriums durchsucht. Ziel war die „Aufdeckung der Wirtschaftskriminalität bei Werkverträgen”. Eine Sonderkommission unter Führung der Oberfinanzdirektion Köln kontrollierte Schlachthöfe, Baufirmen und metallverarbeitende Betriebe in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Bei der Aktion der Soko „Bunda“ (das Wort bedeutet „Mantel“, auf ungarisch ein Slangwort für Betrug) kamen neben 700 Einsatzkräften der Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“ auch zwei Einsatzzüge der Münchener Bereitschaftspolizei, Ermittler der Steuerfahndung, mehrere Staatsanwälte sowie Sondereinsatzkräfte des Zollkriminalamts zum Einsatz.

„Wir wurden von einem bewaffneten Kommando abgeführt und verhört“, beschreibt der Fleischer Gyula Molnár das Vorgehen der deutschen Fahnder. In einem zusammenfassenden Bericht des Bundesfinanzministeriums heißt es, es seien „im Rahmen einer kriminellen Vereinigung gewerbs- und bandenmäßig mindestens 1500 ungarische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik eingeschleust und hier als Billigarbeitskräfte beschäftigt” worden. Den Verdächtigten wurde unter anderem Betrug, Lohnwucher, Steuerhinterziehung, Veruntreuung von Arbeitsentgelt, Menschenschmuggel und Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmer zur Last gelegt. Im Gegenzug machte auch die ungarische Generalstaatsanwaltschaft und Polizei gegen 95 verdächtige deutsche Firmen in Ungarn mobil und verhängte in 45 Fällen Geldstrafen im Gesamtwert von 160.000 Euro.

Nach Informationen des „Vereins Internationaler Unternehmer“ in Budapest ist auf deutscher Seite mittlerweile nur noch ein ungarischer Unternehmer in Haft. Alle anderen seien völlig unbegründet verdächtigt worden. Das Ziel der deutschen Behörden sei die systematische Verdrängung ungarischer Billigunternehmen, so der Vereins-Vorsitzende, Boldizsár Tóth. Während einer Demonstration vor der Deutschen Botschaft in Budapest Ende Juni klagte er, er kenne sogar einen Unternehmer, der 80 Tage lang in einem deutschen Gefängnis gesessen habe und dann ohne jede Erklärung freigelassen worden sei: „Der Betroffene erhielt nicht einmal eine Benachrichtigung über die Untersuchungsergebnisse der deutschen Polizei“. Tóth beschwerte sich auch darüber, dass viele der geprüften Firmen die beschlagnahmten Rechnungen und Schriften bis heute nicht zurückbekommen hätten. „Auch Bankkonten sind noch gesperrt, zehn Firmen sind schon pleite”, so der Unternehmer, der ihre Gesamtschaden infolge entgangener Verträge auf mehr als 500.000 Euro schätzt.

„90 Prozent der in Deutschland tätigen ungarischen Unternehmen betreiben ihr Geschäft nach Vorschrift, aber gegen die restlichen zehn wurde bisher auch keinerlei Beweis hervorgezeigt”, entrüstet sich Görgy Gilyán, Staatsekretär des ungarischen Wirtschaftsministeriums. Gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Georg Wilhelm Adamowitsch führt er eine deutsch-ungarische Expertenkommission an, die nun den Streit beilegen soll. Das erste Treffen der Kommission fand am 8. Juli in Budapest statt. Kurz zuvor begann am 20. Juni in München der Prozess gegen 87 ungarische Arbeiter, die illegal in einer Münchner Metzgerei beschäftigt worden seien. Gilyán ist von der Unschuld seiner verdächtigten Landsleute überzeugt. Sein deutscher Verhandlungspartner Adamowitsch erklärte, deutsche Rechtsbehörden würden unabhängig von der jeweiligen Regierung ihre Pflicht tun und keinesfalls hätten sich die Kontrollaktionen gegen Firmenbesitzer oder die Beschäftigten aus dem Ausland gerichtet. Dennoch: Allein durch Schwarzarbeit erleide die deutsche Wirtschaft einen jährlichen Verlust von 300 Milliarden Euro.

Bislang können sich die Vertreter beider Länder noch nicht einmal darüber einigen, wie eigentlich eine Scheinfirma von einem legalen Unternehmen zu unterscheiden sei. Der ungarische Staatssekretär sprach sich dafür aus, dass es sich nicht durch die Größe der Produktivität im Heimatland entscheiden lasse, ob ein Dienstleister in einem anderen EU-Land gesetzmäßig arbeitet oder nicht. Sein deutscher Kollege dagegen plädierte für eine Regelung, nach der mindestens ein Viertel des Firmeneinkommens in dem Land erwirtschaftet werden muss, in dem die Firma angemeldet ist. Nach Gilyán ist das eine völlig neue deutsche Forderung. Betroffene ungarische Unternehmer finden das übertrieben, ihrer Ansicht nach ist eine Dienstleistung in Deutschland nur dann gesetzwidrig, wenn die Firma überhaupt kein Einkommen dort aufzeigen kann, wo sie ihren Sitz hat – also in diesem Fall in Ungarn. Einig waren sich Deutsche und Ungarn aber darin, dass es ein Fehler gewesen sei, nicht schon vor dem EU-Beitritt Ungarns entsprechende Regelungen zu vereinbaren. Offenbar wurde in Deutschland geschlafen, als das Europäische Parlament die Richtline 96/71 verabschiedete, die auflistet, wie die Hindernisse für die Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU zu beseitigen sind. Die Hauptleidtragenden sind ungarische und andere osteuropäische Metzger, Bauarbeiter und ihre Arbeitgeber. Da das Thema „Dumpinglöhne für Osteuropäer“ in der deutschen Öffentlichkeit geradezu explosive Wirkung hat, müssen sie sich vorerst wohl auf weitere Kontrollaktionen gefasst machen.


Zeittafel des deutsch-ungarischen Konfikts um Billigarbeiter

·26. April: Zugriff der Soko „Bunda“ in 58 deutschen, österreichischen und ungarischen Orten: 1.500 ungarische Staatsbürger, angebliche Schwarzarbeiter, wurden ermittelt. Fünf Hauptbeschuldigte wurden verhaftet und zwei Tatverdächtige vorläufig festgenommen, nach offiziellen Erkenntnissen wurden mehr als 500 Werkverträge mit angeblichen ungarischen Scheinfirmen entdeckt.

·26. April: Nach einer Pressemitteilung der Staatssekretärin des Bundesfinanzamtes, Barbara Hendricks, wurde „eine der größten Verdachtsfälle von Wirtschaftskriminalität bei Werkverträgen aufgedeckt”.

·15.-27. Mai: Zugriff des ungarischen Hauptkontrollamtes für Arbeitssicherheit und Arbeitswesen bei 95 deutschen Firmen in Ungarn: bei 65 wurden Unternehmen Rechtswidrigkeiten festgestellt, in 45 Fällen eine Geldstrafe von insgesamt 160.000 Euro verhängt.

·17. Mai: Boldizsár Tóth, Vorsitzender des ungarischen Vereins der Internationalen Unternehmer, fordert die Unterstützung der ungarischen Regierung für die verdächtigten Firmen und Angestellten in Budapest.

·2. Juni: Vereinbarung der deutschen und ungarischen Staatssekretären in Berlin über die Aufstellung einer gemeinsamen Kommission zur Aufklärung der rechtlichen Grundlagen der Soko-Aktionen.

·8. Juni: Verbalnote des Ungarischen Außenministeriums an die deutsche Botschafterin in Budapest bezüglich der Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche ungarischer Werkvertragsfirmen.

·15. Juni: Boldizsár Tóth sagt im ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dass jeder ungarische, im April verhaftete, Firmenbesitzer und Arbeiter auf freiem Fuß sei und dass alle wieder arbeiten würden. Die Firmenkonten blieben aber gesperrt.

·16. Juni: Antwortnote des Auswärtigen Amtes an das Ungarische Außenministerium mit einem Schreiben der Staatssekretärin Hendricks, in dem auch über den aktuellen Stand des Ermittlungsverfahrens berichtet wird.

·20. Juni: Beginn des Verfahrens gegen 87 ungarischer Arbeiter, die laut deutschem Finanzamt gesetzwidrig in einer Münchener Metzgerei beschäftigt gewesen sind.

·20. Juni: Nach einem rechtskräftigen Beschluss des Bundesgerichts Fulda waren einige Durchsuchungen ungarischer Firmen und Wohnungen in Deutschland nicht rechtmäßig, da die Durchsuchungsbegründung zu allgemein formuliert war.

·24. Juni: Demonstration ehemaliger ungarischen Gastarbeiter vor der Budapester Deutschen Botschaft.

·8. Juli: Erste Sitzung der Deutsch-Ungarischen Kommission in Budapest bezüglich der Rechtsmäßigkeit des Verfahrens der deutschen Behörden gegen ungarischer Unternehmer und Arbeitnehmer.


*** Ende ***


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